Das wahre Leben

Eine beinahe perfekte Familie

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Plötzlich geht alles ganz schnell, eine Geschichte wie man sie immer wieder hinter den ganz alltäglichen Nachrichten von Massenentlassungen und den Folgen der Globalisierung hört: Von einem Tag auf den anderen sitzt der Manager Roland (Ulrich Noethen) auf der Straße. Zuvor hat er seine Familie kaum gesehen, weil er 14 Stunden am Tag geschuftet hat, und dann ist alles vorbei. Die unvermutete ständige Anwesenheit des Ernährers und sein blinder Aktionismus wirken wie ein Katalysator auf brodelnde Konflikte und Veränderungen, die sich hinter der Fassade der Wohlanständigkeit und des gesetzten Bürgertums verbergen. Rolands Gattin Sybille (Katja Riemann) arbeitet an ihrer Selbstverwirklichung als Galeristin und verkauft gequirlten Kunstmist an wohlhabende, aber ahnungslose Kunden und sucht ihre sexuelle Befriedigung woanders, während der 19-jährige Sohn Charles (Volker Bruch) bei der Bundeswehr durch den Dreck robbt und sein schwules Coming-out erlebt. Inmitten des sich abzeichnenden Chaos bastelt währenddessen der jüngere Linus (Joseph Mattes) an Sprengsätzen, mit denen er die Vogelhäuschen und Michelangelo-Statuen der Nachbarschaft atomisiert. Auch nebenan herrscht der nackte Wahnsinn: Hier muss sich Florina (Hannah Herzsprung, Vier Minuten) mit dem Tod ihres Bruders auseinandersetzen, der sie allein mit ihren unfähigen Eltern (Juliane Köhler und Alexander Held) zurückließ. Dass am Ende nicht nur die beiden Familien in Trümmern liegen, sondern auch noch einiges anderes, das deutet sich bereits darin an, dass der Film einstmals den Titel Bummm! trug.
Bei allen Knalleffekten sind es vor allem die die kleinen, feinen Details sowie eine ausgezeichnete Ensembleleistung und nicht die großen Showeffekte, die den Charme und die Qualität dieses Films ausmachen. Mit Das wahre Leben ist dem Schweizer Regisseur Alain Gsponer ein ebenso liebevoller wie sarkastisch-trauriger Blick auf das deutsche Familienleben gelungen, der dafür sorgt, dass dem Zuschauer das Lachen im Halse stecken bleibt. Neben routinierten Schauspielern wie Ulrich Noethen und Katja Riemann sorgen Newcomer wie Hannah Herzsprung, Josef Mattes und Volker Bruch dafür, dass der Film bei aller Drastik niemals aus der Balance gerät und ständig gekonnt zwischen nacktem Entsetzen und Amüsement oszilliert. Ein wundervoll-schreckliches Zeitbild der Familie als Keimzelle der Gesellschaft im Jahr 2007 – mit einem ernüchternden Fazit für beide Institutionen, das bei aller Schonungslosigkeit noch ein schmunzelndes Hoffnungszeichen am Ende bereithält.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-wahre-leben