La Vie en Rose

Kleine Frau, ganz groß! - Der Eröffnungsfilm der Berlinale

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wenn einem Film die Ehre zuteil wird, die Berlinale zu eröffnen, dann ist dies schon eine besondere Auszeichnung, und manches Werk scheint unter der Schwere der Bürde in sich zusammen zu fallen. Kein Wunder also, wenn die Erwartungen an Olivier Dahans Biopic La Vie en Rose / La Môme über die große französische Sängerin Edith Piaf enorm waren und die Spannung förmlich mit Händen zu greifen.
Die Lebensgeschichte des „Spatz von Paris“ hat alles, was es für ein großes Filmdrama braucht, der Aufstieg aus der Gosse, die ersten Schritte auf den Bühnen von Paris, dann die ersten Erfolge, die Zusammenbrüche, die Exzesse, unzählige Affären und natürlich die eine große, unerfüllte Liebe. Wenn es dieses wundervoll-schreckliche Leben der Piaf nicht so gegeben hätte, kein Drehbuchautor hätte es dichter und ambivalenter erfinden können. Ihr Leben war selbst in den Momenten größten Erfolges ein ständiger Kampf und ein Schrei nach Liebe: Von ihrer Mutter, einer Straßensängerin, früh im Stich gelassen, wuchs das Mädchen bei ihrer Großmutter auf, die ihr Auskommen als Bordellbetreiberin verdiente – eine frühe Konfrontation mit den Härten und Grausamkeiten des Lebens. Kein Wunder, dass die Piaf als kleines Mädchen vier Jahre ihrer Kindheit blind war, sie verschloss einfach ihre Augen vor dem, was sie sah – jeder Psychoanalytiker hätte an solch einer Erkrankung seine helle Freude. Später, wieder genesen von der offensichtlich psychosomatisch begründeten Erkrankung, ging sie dann nach Paris, um sich wie ihre Mutter als Straßensängerin durchzuschlagen. Es folgt eine sagenhafte Karriere, die ebenso viele große Momente wie Schattenseiten in sich bergen würde – der „Spatz von Paris“, wie sie ihr Entdecker Louis Leplée nennen wird, hat die Fähigkeit zu ungeahnte Höhenflügen, aber auch zu entsetzlichen Abstürzen – das Drama eines Lebens…

Regisseur Olivier Dahan hat aus dem Lebensdrama der Piaf einen großen Film voller Leidenschaft, Emotion und natürlich viel Musik gezaubert, der die wechselvolle Karriere der großen Sängerin von kleiner Statur als ein bewusst fragmentarisches Biopic gestaltet – wahrscheinlich die beste, weil einzig mögliche Form der Darstellung für ein zerrissene Leben wie das der Sängerin. Sorgfältig ausgestattet und manchmal schonungslos ehrlich übt sich La Vie en Rose / La Môme nicht in tumber Heldenverehrung, sondern zeigt auch die dunklen Seiten einer leidenschaftlichen Frau.

Vor allem aber gibt es in diesem Film eine wundervolle Hauptdarstellerin zu entdecken: Marion Cotillard spielt nicht Edith Piaf, sie IST Edith Piaf. Für die Schauspielerin, die bislang vor allem in Nebenrollen wie etwa in Mathilde - Eine große Liebe / Un Long Dimanche de Fiançailles von Jean Pierre Jeunet oder zuletzt in Ein gutes Jahr / A Good Year zu sehen war, bedeutete die Rolle der Piaf die Chance des Lebens und zugleich die größte Herausforderung- zumal sie selbst gerne Sängerin geworden wäre. Sie trägt den Film, gibt der großen Chanteuse ein eindrucksvolles Gesicht und versteht es, die Balance zwischen Bewunderung und kritischer Betrachtung zu wahren, die dafür sorgt, dass der Film trotz einiger Schwächen in der Dramaturgie und einigen Längen das gelungene Porträt einer großen Künstlerin geworden ist.

Als gestern Abend im Berlinale-Palast nach dem Abspann der Beifall des Publikums aufbrauste und die Hauptdarstellerin Marion Cotillard zum Teil mit standing ovations gefeiert wurde, war dies nicht allein der Lohn für einen stimmungsvoll inszenierten Film, der auch an kritischen Untertönen gegenüber der Chanson-Legende nicht spart, sondern auch der Beweis dafür, dass wahrhaft große Künstlerinnen wie Edith Piaf über alle Zeiten und Grenzen hinweg die Menschen begeistern. In jedem Künstler steckt eben auch immer ein Monster.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/la-vie-en-rose