Irina Palm

Die Handwerkerin

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Es gibt Filme, an denen führt einfach kein Weg vorbei – und das nicht, weil sie durch aufwändige Effekte oder einen Cast voller Berühmtheiten glänzen, sondern weil sie anrühren, bewegen und uns zum nachdenken, Lachen und Weinen bringen. Sam Garbarskis (Der Tango der Rashevskis) neuer Film Irina Palm ist ohne jeden Zweifel solch ein Film, ein Highlight diesen Sommers, der sich – sofern alles gut geht – eine treue Fangemeinde erspielen wird und der ein gewaltiges Potenzial hat
Die Lage ist ernst und längst hoffnungslos für Maggie (Marianne Faithfull), ihren Sohn Tom (Kevin Bishop) und dessen Frau Jane (Jenny Agutter), denn Maggies Enkel Olly ist todkrank. Es bleiben nur noch wenige Monate, alle bisherigen Therapien haben versagt, einzig eine Behandlungsmethode aus Australien könnte noch den sicheren Tod des Kleinen verhindern. Doch die Ersparnisse sind längst aufgebraucht, selbst Omas Haus ist verkauft, so dass die lebensrettende Maßnahme im wahrsten Sinn des Wortes in unerreichbarer Ferne liegt. Dann aber stößt Maggie in einem Londoner Vergnügungsviertel auf einen Aushang, der beste Verdienstmöglichkeiten verspricht. Doch der Chef des Etablissements Miki (Miki Manojlović) macht der verzweifelten Großmutter schnell klar, dass er eigentlich für sie aufgrund ihres Alters keine Verwendung hat. Allerdings hat Maggie zarte Hände, so dass Miki auf die Idee verfällt, der Bittstellerin einen "hand job" anzubieten – sie soll den Clubbesuchern bei Bedarf zur Hand gehen. Trotz allen Ekels nimmt Maggie an, schließlich ist das ihre einzige Chance, das dringend benötigte Geld zusammen zu bekommen.

Die "wichsende Witwe", wie sich Maggie einmal selbst treffsicher nennt, wird zum heimlichen Star des Londoner Vergnügungsviertels, und bald schon stehen die Männer Schlange, um sich von der unscheinbaren Großmama, die durch eine schützende Wand vor den Herren der Schöpfung verborgen ist, "bedienen" zu lassen. Unter ihren zarten Händen schmelzen die Kerle wie Butter und ejakulieren derart ungestüm, dass Miklos bald schon findet, dass Maggie einen Künstlernamen braucht – eben Irina Palm (der englische Ausdruck Palm bedeutet auf Deutsch "Handfläche", ein Hinweis auf die Fingerfertigkeiten Maggies). Doch die ungeahnten Talente wecken auch die Begehrlichkeiten der Konkurrenz, so dass es bald erste Abwerbungsversuche gibt. Und die häufige Abwesenheit Maggies, ihre immer seltener werdenden Besuche bei ihrem Enkel und schließlich das Geld, dass sie innerhalb kurzer Zeit durch ihrer Hände Arbeit verdient, werfen natürlich Fragen auf, die die "beste rechte Hand von London" nicht gern beantworten mag…

Irina Palm ist ein Glücksfall für das Arthouse-Kino, ein kleiner Film, der seine einfache Grundkonstellation mit bemerkenswerter Konsequenz und ohne falsche Sentimentalität durchkonjugiert und eine wundervolle Melange aus genauer Beobachtung des Sozialen, persönlichem Schicksal und viel Witz auf die Leinwand zaubert. Neben einen exquisiten Drehbuch und Sam Gabarskis einfühlsamer und bisweilen sehr pointierter Regie ist es vor allem Marianne Faithfull zu verdanken, dass dieser Film das Potenzial zu einem echten Kulthit hat. Bislang nicht gerade als herausragende Charakterdarstellerin aufgefallen, spielt sie hier die Rolle ihres Lebens, eine naive Frau, die bereit ist, aus Liebe zu ihrem Enkel weit über ihre eigenen Grenzen hinauszugehen und die mit stoischer Ruhe ihr Handwerk verrichtet, weil es einfach getan werden muss.

Auf der diesjährigen Berlinale avancierte Irina Palm in einem ansonsten durchwachsenen Wettbewerb zum Publikumsliebling, und man kann nur hoffen, dass diesem kleinen, feinen, typisch britischen Film zwischen Tragik und Komik an den Kinokassen das gleiche Schicksal ereilt, verdient hätte er es allemal.

Irina Palm bekam von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden das Prädikat "Besonders wertvoll" verliehen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/irina-palm