Inland Empire (2006)

Ein Labyrinth aus Traum, Wahn und Wirklichkeit

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Manchmal machen es einem Filmemacher aber auch echt schwer. Besonders dann, wenn ihre Filme nicht etwa durch Missgeschicke, unausgegorene Drehbücher und sonstige Fehlgriffe unverständlich bleiben, sondern wenn dies mit voller Absicht geschieht. Die Schwierigkeiten mit David Lynchs neuem Film Inland Empire beginnen bereits bei der Nacherzählung der Handlung. Dabei ist die Ausgangssituation durchaus verständlich: Die Schauspielerin Nikki Grace (großartig: Laura Dern) erhält von dem Regisseur Kingsley Stewart (Jeremy Irons) die Chance auf ein Leinwand-Comeback. Am Set angekommen werden sie und ihr Filmpartner Devon Berk (Justin Theroux) vom Regisseur darüber unterrichtet, dass der Film mit dem Titel „On High in Blue Tomorrows“ keineswegs ein Originalstoff ist, sondern dass es sich dabei um ein Remake eines alten Filmes handelt. Und mehr noch: Der Film sollte bereits schon einmal gedreht werden, konnte damals aber nicht fertig gestellt werden, da die beiden damaligen Hauptdarsteller vor Beendigung der Dreharbeiten ums Leben kamen. Beinahe scheint es so, als liege auf dem Film, der auf ein polnisches Volksmärchen zurückgeht, ein Fluch.

Eine Vermutung, die sich während der Dreharbeiten auf seltsame Weise zu bestätigen beginnt. Nikki kommt nicht nur ihrem Filmpartner näher, sondern verschmilzt auch mehr und mehr mit ihrer Filmfigur Susan Blue. Immer wieder zeigen sich dabei Nikkis Wirklichkeit und die Filmhandlung, Vergangenes und Zukünftiges, Fiktion und Realität als Bereiche, die fließend ineinander übergehen und Rätsel, Ängste und traumatische Erfahrungen provozieren. Ein Alptraum beginnt, der 172 Minuten lang anhalten wird und der zwar am Ende eine Lösung, aber noch lange keine endgültige Erklärung für die Ereignisse auf der Leinwand bietet.

Ohne Zweifel ist David Lynch einer der wichtigsten und innovativsten Filmemacher der letzten 25 Jahre, der mit Filmen wie Eraserhead, Blue Velvet, Wild at Heart, Lost Highway und Mulholland Drive alte Seh- und Erzählweisen aufgebrochen und revolutioniert hat. Und ganz nebenbei hat Lynch mit Twin Peaks auch den Weg für neue Formate im Bereich der Fernsehserien geebnet. Mit Inland Empire verfolgt Lynch seine eingeschlagene Richtung konsequent weiter und lotet die Grenzen des Mach- und Verstehbaren des Kinos weiter aus. Klar, dass ein Teil des Publikums ihm auf diesem Weg nicht weiter folgen wird, denn mehr als je zuvor entzieht sich Lynch jeder Interpretation und insistiert darauf, seinen Film selbst nicht zu verstehen. Nach wie vor versteht es Lynch mit seinen ihm eigenen Mitteln, die Zuschauer gleichermaßen in seinen Bann zu ziehen und zutiefst zu verunsichern. Zwar ist dieses Spiel mit dem Zuschauer mittlerweile auch im Mainstream-Kino immer häufiger anzutreffen, doch Lynch ist und bleibt nach wie vor der Wegbereiter und der Avantgardist des filmischen Bewusstseins, ein visueller Psychoanalytiker, dessen Sog sich kaum jemand entziehen kann.

Eines ist klar: David Lynchs neuer Film Inland Empire wird die Kinogänger spalten wie kaum ein anderes Werk des Regisseurs zuvor und wie kaum ein Film in diesem Jahr. Das muss man mögen, ein an- und aufregendes Erlebnis, das für begeisterte Aufnahme oder wütende Ablehnung sorgen wird, ist es aber allemal. Verpassen sollte man diesen Film schon allein deshalb auf gar keinen Fall – er ist die wahrscheinlich heftigste Erfahrung, die man in diesem Jahr im Kino machen kann, ein Labyrinth aus Traum, Wahn und Wirklichkeit. Und sollte sich das Gerücht als wahr herausstellen, dass dies das letzte Werk Lynchs war, fragt man sich schon, wer uns Zuschauer dann in Zukunft an die Grenzen unseres Bewusstseins und darüber hinaus führen wird.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/inland-empire-2006