Das Mädchen, das die Seiten umblättert

Die Rache kommt auf leisen Sohlen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Manchmal sind es lediglich kleine Unachtsamkeiten, die ein Leben zerstören können. So auch im Fall der zehnjährigen Mélanie (Julie Richalet), einem Mädchen aus einfachen Verhältnissen, das von einer Karriere als Pianistin träumt. Doch als sie endlich zum sehnlichst erwarteten Vorspiel beim Konservatorium antritt, verhält sich die Jurypräsidentin Ariane (Catherine Frot) so taktlos, dass Mélanie just eben jenem gerät und den Musikvortrag am Piano vergeigt. Nun mag ein solcher Patzer bei einem jungen Mädchen kein Beinbruch sein, für Mélanie aber bricht eine Welt zusammen, enttäuscht entsagt sie der Musik und begräbt alle Hoffnungen auf eine Laufbahn als Pianistin. Vergessen kann sie die Schmach aber nicht…
Doch wie der Zufall (oder Mélanie) es will, begegnet man sich stets zweimal im Leben, und so nimmt das Schicksal seinen Lauf. Zehn Jahre später arbeitet die einstmals hoffnungsvolle kleine Klavierspielerin, nun zu einer jungen, etwas stillen Frau (Déborah François) gereift, als Praktikantin bei dem Anwalt Fouchécourt (Pascal Greggory), der mit der Peinigerin von einst verheiratet ist. Als der Advokat nach einer Ferienbetreuung für seinen zehnjährigen Sohn Tristan (Antoine Martyniciow) sucht, bietet Mélanie prompt ihre Hilfe an und kommt so auf das Landgut der Fouchécourts. Da Ariane ihren Prüfling von einst nicht erkennt, schöpft niemand Verdacht, und die junge Frau macht sich im Haushalt Arianes Schritt für Schritt unentbehrlich. Und als die Pianistin, deren Karriere sich langsam dem Ende zuneigt und die immer mehr unter heftigem Lampenfieber leidet, entdeckt, dass das Kindermädchen auch noch perfekt Noten lesen kann, wird die junge Frau kurzerhand zur Notenumblätterin auserkoren. Was niemand ahnt: Für Mélanies Rachegelüste ist dies der ideale Platz, und die einstmals Gekränkte zieht nun alle Register, um sich für die damals erlittene Demütigung zu rächen – von erotischer Verwirrung bis zu emotionaler Abhängigkeit ist ihr kein Mittel zu schade…

Dass Denis Dercourt seine Geschichte einer Rache im musikalischen Umfeld ansiedelt mag wenig verwundern, immerhin ist die Mutter des Regisseurs selbst Klavierlehrerin, so dass er das Scheitern so mancher musikalischer Ambitionen hautnah miterlebt haben dürfte. Doch Dercourt liegt die Musikalität nicht nur im Blut, er hat auch selbst eine beachtliche Karriere auf diesem Gebiet hinter sich: Von 1988 bis 1993 war er Solo-Bratschist im Orchestre Symphonique Français und trat unter anderem in der New Yorker Carnegie Hall auf. Seit 1993 hat er einen Lehrauftrag für Bratsche und Kammermusik am Conservatoire National in Strasbourg.

Dass sein Film nun deutlich mit Elementen des Thrillers spielt, ist für Dercourt vor allem ein Mittel der Distanzierung von den eigenen Erfahrungen. Und so ist es nur folgerichtig, dass Das Mädchen, das die Seiten umblättert / La Tourneuse de Pages ein bewusst kühler, häufig in distanzierter Beobachtung verbleibender Film ist, der seine Faszination vor allem aus der Unergründlichkeit und der reinen Psychologie und weniger aus Schockeffekten gewinnt. Es sind vor allem Blicke, Andeutungen, Ahnungen, mit denen Dercourt operiert, und sie erfordern einen aufmerksamen Zuschauer, doch wer dem Film diese Achtsamkeit schenken mag, wird reich belohnt. Es erwartet ihn ein wundervoller Film, elegant, klar, voll psychologischer Tiefe und ausgefeilt bis ins letzte Detail. Einziger Wermutstropfen ist die recht zurückhaltende Regie, von der man sich manches Mal ein wenig mehr Drive gewünscht hätte. Nichtsdestotrotz bietet Das Mädchen, das die Seiten umblättert / La Tourneuse de Pages spannende und intelligent gemachte Unterhaltung.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-maedchen-das-die-seiten-umblaettert