Ein fliehendes Pferd

Die Stürme des Lebens

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Seit Jahren schon machen die Halms Urlaub am Bodensee – stets verbringen der Oberstudienrat Helmut (Ulrich Noethen) und seine Gemahlin Sabine (Katja Riemann) diesen in derselben Ferienwohnung. Schon allein das ist ein deutliches Anzeichen für die Gewohnheiten und Routinen, die diese Ehe längst beherrschen. Doch man gibt sich guten Mutes und lebt still nebeneinander her, und es könnte wohl noch ewig so gehen. Sex ist mittlerweile zum Fremdwort geworden, Sabine hat sich anscheinend ihrem Schicksal als frustrierte Ehefrau ergeben und begibt sich allenfalls noch auf die Pirsch nach seltenen Vögeln. Eines Tages aber kommt unversehens frischer Wind in die einschläfernde Urlaubsidylle, als das Ehepaar in einem Strandbad Helmuts altem Schulfreund Klaus (Ulrich Tukur) begegnet, der von der jungen Helene (Petra Schmidt-Schaller) begleitet wird. Der lebensfrohe, laute, aufschneiderische Klaus ist das genaue Gegenteil des braven Oberstudienrates, und auch die beiden Frauen trennen mehr als nur ein paar Jahre. Aus der Frustration des Bestehenden und dem Reiz des Neuen heraus entspinnt sich ein erotischer Reigen und ein Bäumchen-wechsel-dich-Spiel, das die bisherigen Beziehungen einer ernsthaften Zerreißprobe unterzieht – Helmut fühlt sich zu der charmanten, jungen Helene hingezogen und entdeckt, dass seine Begierden und Gelüste keineswegs abgestorben sind, während Sabine bei Klaus entdeckt, dass auch sie noch eine begehrenswerte Frau ist. Allerdings wird auch schnell klar, dass diese neu erwachten Emotionen zu schweren Konflikten und Zerwürfnissen führen werden, die schließlich in einer Eskalation während eines auch sonst recht stürmischen Segeltörns auf dem Bodensee münden…
Vor beinahe 30 Jahren geschrieben, hat Martin Walsers Novelle Ein fliehendes Pferd auch heute nichts von Ihrer Aktualität und Zeitlosigkeit verloren. Die Krisen in der Mitte des Lebens, Beziehungen, die in den Routinen des Alltags ersticken, die aufkommende Torschlusspanik und die Lebenslügen, das alles ist heute kein bisschen besser als damals. Doch das ist sicher nur einer der Gründe, warum Rainer Kaufmanns Adaption der Novelle, die Generationen von deutschen Gymnasiasten in die Verzweiflung getrieben haben dürfte, gut funktioniert. Vor allem hat Kaufmann in seiner Verfilmung genau die richtige Balance zwischen Werktreue und eigenem Profil gefunden – hier wirkt nichts aufgesetzt, rezitierend oder verkrampft, wie sonst oft bei Literaturverfilmungen üblich, der Film strahlt vielmehr einen natürlichen Charme aus, dem man sich nur schwer entziehen kann. Das liegt vor allem an einem glänzend aufgelegten Ensemble, das einfach prima harmoniert. Der einzige Kritikpunkt in einer ansonsten rundum gelungenen Inszenierung sind lediglich manche Dialogpassagen, die dann doch ein wenig sehr bemüht daherkommen.

Ein fliehendes Pferd wurde von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden mit dem Prädikat "Besonders wertvoll" ausgezeichnet.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ein-fliehendes-pferd