Das Waisenhaus

Ein Horrorfilm der subtilen Art

Eine Filmkritik von Markus Fritsch / Joachim Kurz

Wenn ein spanischer Film in seiner Heimat für Furore sorgt und bei der dortigen Vergabe der Filmpreise gleich sieben der begehrten Trophäen erhält, dann ist das normalerweise in Deutschland kaum von Belang – zumindest solange der Regisseur nicht Pedro Almodóvar heißt. Im Falle von Juan Antonio Bayonas subtilem Horrorthriller Das Waisenhaus / El Orfanato aber liegt der Fall ein wenig anders, denn der Film hat durchaus das Zeug, sich auch hierzulande eine treue Fangemeinde zu erobern. Und zugleich zeigt er, wie sehr die spanische Filmszene in den letzten Jahren in Bewegung geraten ist. Plötzlich finden sich haufenweise junge Talente, die sich in verschiedenen Genres ausprobieren und bewähren – paradiesische Zustände, von denen deutsche Regisseure mit einer Vorliebe für das Makabre und Gruselige nur träumen können.
Es ist eine Reise in die eigene Vergangenheit, in die Laura (Belén Rueda) mit ihrem siebenjährigen Sohn Simón (Roger Princep) und ihrem Mann Carlos (Fernando Cayo) antritt: Beseelt von dem Wunsch, das Waisenhaus, in dem sie einst selbst aufwuchs, wieder zum Leben zu erwecken, macht sie sich dorthin auf und nimmt die verwunschene und vergessen wirkende Villa wieder in Besitz; sie ist überzeugt davon, dass bald wieder fröhliches Kinderlachen durch die Gänge und Flure, die Zimmer und versteckten Winkel hallt. Doch schnell wird klar, dass in dem Haus auch die Dämonen der Vergangenheit lauern. Ihr Sohn, den sie selbst adoptiert hat und der mit dem HIV-Virus infiziert ist, erzählt wie aus heiterem Himmel von Freunden, die seltsame Spiele mit ihm spielen. Doch das Haus ist bis auf die kleine Familie noch menschenleer. Zunächst tut Laura dies als kindliche Fantasie ab, doch das leise Misstrauen und ein schleichendes Gefühl des Misstrauens sind von nun an ihre ständigen Begleiter. Eines Tages erhält Laura Besuch von einer seltsamen alten Dame namens Benigna Escobedo (Monserrat Carulla), die sich als eine Mitarbeiterin des Sozialamtes vorstellt und Hilfe bei der Bewältigung von Simons Krankheit anbietet. Und von da an ist nichts mehr so, wie es vorher war: Simón erfährt von seinen imaginären Spielkameraden, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Während einer Einweihungsparty, bei der alte Masken an die Gäste verteilt werden, verschwindet Simón und ein seltsames Kind mit einem altmodischen Kittel und einer Furcht einflößenden Stoffmaske erscheint. Außer sich vor Sorge macht sich Laura auf die Suche nach ihrem verschwundenen Sohn, sie dringt dabei immer tiefer in die Geschichte und des Waisenhauses vor und entdeckt Geheimnisse, die besser unter dem Schleier der Vergangenheit verborgen geblieben wären. Denn, das was Laura enthüllt, hat auch ganz unmittelbar mit ihr selbst zu tun…

Wer bei diesem Film auf knallige Schockeffekte wartet, der wird mit Sicherheit über weite Strecken enttäuscht werden. Denn statt der üblichen Tricks baut Juan Antonio Bayona sehr geschickt auf eher leise Töne und versteht es mittels einfacher Symbole eine knisternde Spannung zu erzeugen. Nur an zwei Stellen werden auch hartgesottene Horror-Fans eine merkliche Beschleunigung des Pulsschlages verspüren. Dies ist zum einen jene Szene, in der Laura plötzlich auf der Straße die alte Benigna entdeckt und diese ansprechen will, als ein grausiges Unglück geschieht. Und zum zweiten ist es vor allem der Junge mit der Maske und die Gewissheit, dass diese Kopfbedeckung ein entsetzlich entstelltes Gesicht verbirgt – eine Angst-Lust, mit der Bayona mit sichtlichem Vergnügen spielt und diesen Moment immer wieder hinauszögert.

Bemerkenswert ist auch der Auftritt Geraldine Chaplins als Medium Aurora, die in einer denkwürdigen Séance versucht, hinter das Geheimnis von Simóns Spielkameraden zu kommen. Es ist erstaunlich und zeugt von großem Talent, wie Bayona es hier versteht, das Grauen wahrhaftig werden zu lassen, obwohl während der gesamten Sitzung nichts wirklich Greifbares geschieht.

Ebenso geschickt zeigt sich der Regisseur darin, die Hauptfiguren Laura und Simón in der Schwebe zwischen Glaubwürdigkeit und Wahnvorstellungen zu halten. Bis zum Schluss hat man als Zuschauer keine Ahnung, ob die ganzen Geschehnisse nur ein Traum sind, ob das, was wir gesehen haben, sich wirklich ereignet hat oder ob dies nur Lauras – möglicherweise überspanntem – Geist entsprungen ist, so dass das Ende beinahe schon wie eine Erlösung aus unserer Qualen und denen Lauras ist, so grausam dies auch sein mag.

Sehr schön ist auch die Art und Weise, wie Bayona das Motiv des Doppelgängers immer wieder variiert. Laura findet ihre Entsprechung in der alten Benigna, während Simón und der Maskenjunge Tomás, Benignas Sohn, miteinander in einer besonderen Verbindung stehen. Am Ende verschmelzen die Figuren miteinander, gerade so, als seien sie verschiedene Teilaspekte derselben Seele, die erst in ihrer Vereinigung Erlösung von der Verdammnis finden, die dem unheimliche Haus innewohnt.

Das Waisenhaus / El Orfanato ist ein ohne viele Effekte gemachter, beinahe altmodisch wirkender, aber äußerst packender Film, der auch im Nachhinein dafür sorgt, dass das Kopfkino selbst Tage nach dem Besuch des Filmtheaters noch munter weiterläuft. Mehr kann man sich als Fan von raffiniert gebauten Horrorfilmen eigentlich kaum wünschen. Denn das wahre Grauen spielt sich sowieso in den Köpfen der Zuschauer ab.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-waisenhaus