Odette Toulemonde
Eine Frau zwischen zwei Welten
Eine Filmkritik von Peter Gutting
Die Frau weint. Sie weint am Mittag, im Café. Sie weint am Abend noch immer, am Straßenrand. Und das in einer Komödie. Dann nimmt die Frau ein Buch in die Hand. Und auf der Heimfahrt im Bus, noch immer in die Lektüre vertieft, beginnt die Frau zu schweben: ganz im Wortsinn, einen halben Meter über dem Sitz.
Es ist nicht das erste Mal in diesem Film, dass sich Odette Toulemonde der Schwerkraft entzieht und den Weg nach oben sucht, himmelwärts. Doch eigentlich ist Odette eine ganz normale Frau. Wie ihr Nachname schon sagt: Toulemonde, wie jedermann. Frau Jedermann arbeitet als Verkäuferin in der Kosmetikabteilung eines Kaufhauses. Ihr Mann ist vor einigen Jahren gestorben, die beiden erwachsenen Kinder wohnen noch zu Hause: Rudy, der schwule Friseur mit seinen ständig wechselnden Bettgenossen, und Sue Helen, die arbeitslos rumhängt mit ihrem Freund. Der ist in der engen Wohnung einer zu viel.
Aber Frau Jedermann ist gar nicht Frau Jedermann, jedenfalls nicht nur. Sie ist irgendwie anders. Nicht allein, weil sie fliegen kann. Frau Jedermann lebt in zwei Welten, zwischen denen sie mühelos hin- und herschwebt. Wenn um sie herum das Alltagschaos tost, dann versprüht sie ungekünstelte Lebensfreude und hat für jeden das richtige Wort. Odette meistert ihr Schicksal dank der Kraft der Poesie, verkörpert in ihrem Lieblingsschriftseller Balthazar Balsan.
Und weil der Film märchenhafte Züge trägt, steht der erfolgsverwöhnte Autor plötzlich vor der Tür der einfachen Verkäuferin. Das kommt so: Odette fährt zum ersten Mal zu einer Signierstunde. Sie möchte dem Mann, der ihr Leben verzaubert, so viel sagen, bringt aber nicht mal ihren Namen raus. Also schreibt sie ihm einen Brief. Den öffnet der gut aussehende Literat just im Augenblick einer existenziellen Krise. Von der Kritik als Kitschautor geschmäht, von der Ehefrau mit seinem ärgsten Feind betrogen, flieht er nach einem Selbstmordversuch aus der Psychiatrie und weiß nicht wohin. Damit gehen die Verwicklungen und Umschwünge erst richtig los, schließlich befinden wir uns mitten in einer Komödie.
Regisseur Eric-Emmanuel Schmitt ist ein erfolgreicher französischer Schriftsteller. Er weiß, wovon er in seiner Kurzgeschichte spricht, die den denselben Titel hat und die auf der Basis des Film-Drehbuchs nachträglich entstanden ist. Bisher haben andere Schmitts Geschichten und Drehbücher verfilmt, etwa Francois Dupeyron mit
Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran / Monsieur Ibrahim et les fleurs du Coran (2003).
Odette Toulemonde ist Schmitts erste Regiearbeit. Und der Autor erzählt mit Bildern, als hätte er nie etwas anderes gemacht. Er arbeitet mit optischer Ironie, mit spöttischer Charakterzeichnung und skurrilen Nebenfiguren. Die fehlen in seinem Text, tun aber der filmischen Umsetzung gut. Von den ersten Minuten an begleiten sie das Geschehen mit einem Augenzwinkern. So wirken sie den zuweilen kitschigen Passagen dieses Liebesmärchens entgegen. Als Klischeebrecher bewähren sich darüber hinaus musicalhafte Gesangs- und Tanzeinlagen. Sie treiben das Lehrstückhafte der Handlung so auf die Spitze, dass es schon wieder lustig wird. Trotzdem: Die Geschichte handelt von Klischees und arbeitet mit Klischees. Das ist eine Gratwanderung, die nicht immer gelingt.
Trittsicher ist die Inszenierung da, wo Odette-Darstellerin Catherine Frot ihre großen Auftritte hat. In Deutschland ist die in ihrem Heimatland beliebte Kino- und Theaterschauspielerin vor allem durch den in diesem Frühjahr gestarteten Film
Das Mädchen, das die Seiten umblättert / La Tourneuse de Pages bekannt geworden. Dort spielt sie eine ehrgeizig-gebrochene Pianistin. Als Odette kann sie nun ihre lebensklugen und komödiantischen Seiten ausleben: eine Frau, die ebenso im Leben steht wie darüber. Die - genauer gesagt – gerade deshalb so realistische Wurzeln schlägt, weil sie den Kopf hoch genug in den Wolken hat. Und das mit einer Grazie und Anmut, als wäre die Filmfigur der Amélie mit ihrer "wunderbaren Welt" wieder auferstanden, diesmal als gereifte Frau von 50 Jahren.
Schwerer hat es Albert Dupontel als Balthazar. Obwohl ein Mann der Fantasie, ist seine Rolle nicht auf das romantische Flirren zwischen den Welten angelegt. Er ist dazu verdammt, in der Realität zu leben, wie sie nun mal ist: alles andere als komisch. Und so muss er zuerst den verwöhnt-gelangweilten Frauenvernascher geben, dann den begossenen Pudel und schließlich den geläuterten Entdecker des einfachen, aber authentischen Lebens. Immerhin darf der Mann mit der Leichenbittermiene ganz am Ende ebenfalls fliegen: In einer Szene, die so ironisch und trotzdem verklärt ist, dass wir wissen, warum wir ins Kino gehen. Um 100 Minuten zu träumen und zu vergessen. Vielleicht auch, um zu weinen. Vor Rührung.
Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/odette-toulemonde