Ein einziger Augenblick

Verzweifelte Schuldsuche

Eine Filmkritik von Florian Koch

Der gewaltsame Verlust eines geliebten Menschen kann die unterschiedlichsten Verhaltensweisen bei den Hinterbliebenen hervorrufen: Trauerarbeit, eine quälende Apathie, Ersatzhandlungen zur Verdrängung, eine irrationale Schuldsuche bei sich selbst oder brutal aufkommende Rachegelüste. Das letztere Gefühl verarbeiteten zahllose fragwürdige Selbstjustizreißer, vielleicht am prominentesten die mehrteilige Ein Mann sieht rot / Death Wish (1974-94) Charles Bronson-Reihe. In jüngster Zeit scheint dieses Genre wieder in Mode zu kommen. James Wans Death Sentence setzte auf stupide, rassistische Actionausbrüche, immerhin überzeugend verkörpert von Charakterkopf Kevin Bacon. Die subtilere, aber nicht weniger problematische weibliche Version mit Jodie Foster lieferte Neil Jordan mit Die Fremde in dir. Keiner dieser Werke entwickelte eine überzeugende Entwicklungsgeschichte des archaischen „Auge um Auge“ –Gefühls. Terry George, der nordirische Regisseur des gefeierten Genozid-Dramas Hotel Ruanda wagt sich an eine differenziertere, wertfreiere Aufarbeitung der Thematik. Für sein auf dem Roman von John Burnham Schwartz beruhendes Drama Ein einziger Augenblick / Reservation Road stehen ihm dabei die Charakterdarsteller Joaquin Phoenix und Mark Ruffalo zur Verfügung.
Was der angesprochene "einzige Augenblick" im Leben zweier Familien verändern kann beweist Georges Film. Der übermüdete Anwalt Dwight Arno (Mark Ruffalo) macht sich spätabends mit seinem Sohn Lucas (Eddie Alderson) auf dem Heimweg von einem Baseball-Spiel der White Sox. Kurz abgelenkt übersieht er auf einer Waldstraße – der im Original titelgebenden "Reservation Road" - an einer Tankstelle den 10-jährigen Josh Leaner (Sean Curley), der gerade seine gefangenen Glühwürmchen am Wegesrand in die Freiheit entlassen will. Arnos Wagen erfasst den Jungen. Der unter Zeitdruck stehende Anwalt begeht nach kurzem Zögern Fahrerflucht, um seiner verärgerten Ex-Frau Ruth (Mira Sorvino) endlich ihren Sohn nach Hause zu bringen. Joshs Mutter Grace (Jennifer Connelly) sowie seine Schwester Emma (Elle Fanning) bekommen von dem Verbrechen zuerst gar nichts mit; Joshs Vater Ethan (Joaquin Phoenix) begreift als erster den Ernst der Lage und sprintet zum Tatort. Unter Tränen muss er miterleben, wie sein Sohn an den Folgen des tragischen Unfalls stirbt. In der Kürze der Ereignisse gelingt es ihm auch nicht mehr, sich das Kennzeichen des Todfahrer-Fahrzeugs zu merken.

Nach diesem Ereignis steht die Learner-Familie unter Schock. Während Grace versucht ihren Trauergefühlen Herr zu werden, verwandelt sich College-Professor Ethan zusehends in ein psychisches Wrack. Von Alpträumen, Rachegefühlen und Zorn auf die sich dahin schleppende Polizeiermittlung geplagt sucht er in Internet-Foren nach Gleichgesinnten. Schließlich entscheidet sich die zerrüttete Familie einen rechtlichen Beistand zu konsultieren und trifft dabei ausgerechnet auf Dwight Arno. Trotz nagender Gewissensbisse verweigert Arno aus Angst seinen Sohn dann nie wieder sehen zu können den fälligen Gang zur Polizei und lässt sich auch vor den Learners nichts von seiner Schuld anmerken. Doch die Drehbuchzuspitzung verlangt danach, dass sich die Wege der beiden getriebenen Männer kreuzen.

Ein einziger Augenblick / Reservation Road nähert sich seinen wichtigen Themen wie Fahrerflucht und die Verarbeitung eines menschlichen Verlusts eher schleichend an. Eine äußere Handlung findet zu Gunsten einer differenzierten Innenschau kaum statt. Immer wieder bieten dabei die Großaufnahmen der Gesichter von Phoenix und Ruffalo dankbare Leidens-Projektionsflächen für den Zuschauer. Dazu passt auch die melancholische Herbst-Atmosphäre, die Kamera-Routinier John Lindley in stimmigen Bildern einfängt. Hervorzuheben ist auch das Setting. Spielen Rachethriller sonst gerne im Großstadtmoloch, verweigert sich Ein einziger Augenblick / Reservation Road dieser gängigen Verortung. Hier steht eine eigentlich herzliche Kleinstadt im Zentrum. Umso härter sind die persönlichen Konsequenzen, weil nahezu jeder Einwohner von dem traurigen Schicksalsschlag der Learner-Familie weiß. Dem kollektiven, gut gemeinten, aber fatalem Mitleid entkommt sie nicht. Trotz der überzeugenden filmischen Umsetzung und der hervorragenden Hauptdarsteller ist das hochemotionale Drama nicht ohne Schwächen.

Bedenklich ist besonders die unglaubwürdige, an L.A. Crash erinnernde Konstruktion, dass alles mit allem zusammenhängen muss. Besonders trifft das die unterentwickelten Nebenhandlungsstränge und ihre leider unterprivilegierten weiblichen Figuren. Als Mira Sorvino schließlich auch noch der Tochter der Learners Klavierstunden gibt ist ein gesundes Maß an Glaubwürdigkeit überschritten. Genau in diese Kerbe tritt auch der überzogene Schluss, der dem Film vieles von seiner Kraft raubt. Vielleicht reagierte deswegen die US-Kritik eher verhalten auf den einstigen Oscar-Anwärter, der allerdings zu Unrecht an den US-Kinokassen mit einem Einspiel von unter einer Millionen Dollar abgestraft wurde. Denn alleine die Leidens-Präsenz des Charaktermimen Joaquin Phoenix lohnt den "Runterzieher"-Kinobesuch.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ein-einziger-augenblick