Der Klang des Herzens

Ein modernes Märchen

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Die Musik ist überall, sagt August Rush. Man muss sie nur hören. Der Elfjährige hört vieles, was andere nicht hören. Das bringt ihn in magische Verbindung mit denen, die ähnlich sensible Ohren haben. Dass darunter auch Augusts Eltern sind, die er noch nie gesehen hat, macht aus der Geschichte eine märchenhafte Symphonie der großen Gefühle.
Die Ouvertüre schlägt das Thema unmittelbar an, kraftvoll, energisch, wie ein großes Orchester: Ein Junge im Kornfeld, die Kamera fliegt darüber, zieht ihre Kreise, während die Ähren wogen. August Rush (Freddie Highmore) dreht sich verzückt, wie in einer anderen Welt, weit weg vom traurigen Alltag eines Waisenheims. Das Heimkind lebt tatsächlich in seinem eigenen Kosmos. Denn es ist mit einem außergewöhnlichen akustischen Sinn begabt, ein Wunderknabe, seiner selbst unbewusst. Auch wenn August (noch) kein Instrument spielt, nimmt er die Natur musikalisch wahr. In den Klängen seiner Umgebung spürt er eine Schwingung, die ihn mit seinen Eltern verbindet.

Rückblende: Lyla und Louis, die Eltern, haben sich eine romantische Nacht lang geliebt. Schon am nächsten Morgen trennte sie Lylas Vater. Er sah in der Liebesbeziehung und in dem dabei gezeugten Kind eine Gefahr für die Solokarriere seiner Tochter, einer ziemlich begabten Cellistin. Nach einem schweren Unfall der Schwangeren sagt er der Tochter, das Kind sei tot. Elf Jahre lang verstummte die Musik. Lyla (Keri Russell) und Louis (Jonathan Rhys Meyers) gaben ihre Karrieren auf, arrangierten sich mehr schlecht als recht in bürgerlichen Berufen. Aber nun kommt eine Melodie auf, die die erstarrten Verhältnisse in Bewegung setzt. August haut ab aus dem Heim und geht nach New York. Auch seine Eltern kehren zurück in die Metropole, in der alles anfing. Dort schlägt sich der Sohn mit einem musikbegeisterten, aber selbstsüchtigen Ersatzvater herum.

Der Klang des Herzens / August Rush ist keine realistische Geschichte, die Gesetze der Wahrscheinlichkeit sind außer Kraft. Erzählt wird wie im modernen Märchen: mit Einlagen, in denen der Welt verzaubert wird, Augen und Ohren in einen Taumel geraten. Etwa wenn August aus dem Lastwagen springt und zum ersten Mal die Geräusche der großen Stadt aufsaugt: überdeutlich, überempfindlich bis an die Schmerzgrenze. Und sich allmählich der Geräuschbrei verwandelt in einen Rhythmus, in eine Musik. Oder wenn die Eltern, die sich da noch gar nicht kannten, am Abend vor der Liebesnacht ihre Konzerte geben – sie auf der klassischen, er auf der Rockbühne – und der Schnitt die Auftritte zu einem einzigen verschmelzen lässt, so als würde er plötzlich zu ihrem Cello singen und als würde sie den Rhythmus der Band fortführen.

Was es heißt, wenn Eltern ihr Kind verlieren – mit diesem Thema hat sich die irische Regisseurin Kirsten Sheridan schon einmal beschäftigt. Das war bei In America, einem Film ihres Vaters Jim Sheridan (Mein linker Fuß), für den sie zusammen mit ihrer Schwester Naomi am Drehbuch mitschrieb. Ähnlich wie dort stellt sie sich auch in ihrem eigenen Streifen den großen Gefühlen.
Der Klang des Herzens / August Rush ist so anrührend, wie der deutsche Titel vermuten lässt. Er verdoppelt und verdreifacht das Motiv des mutter- und vaterlosen Kindes und der Eltern, deren Kinder – vermeintlich oder tatsächlich – gestorben sind. Und er ist von einem ähnlichen Optimismus und einer Lebenskraft geprägt wie In America. Nur dass hier eine Quelle für diese Kraft in den Vordergrund rückt, die damals kein Thema war: die Musik. Und so kann man die Geschichte mit ihren furiosen Parallelmontagen auch als einen Musikfilm sehen. Das gilt sowohl inhaltlich als auch auf den Erzählrhythmus bezogen. Ganz nach dem Motto von August Rush: Musik ist überall, man muss sie nur hören.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-klang-des-herzens