Schmetterling und Taucherglocke (2007)

Die Magie des Augenblicks

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Noch ist es zu früh, um die wichtigsten, schönsten und eindrucksvollsten Filme dieses Jahres zu küren, doch dass im Dezember Julian Schnabels Film Schmetterling und Taucherglocke / Le scaphandre et le papillon auf den Top Ten Listen vieler Kritiker und Zuschauer stehen wird, steht eigentlich außer Frage. Bereits 2007 beim Filmfestival von Cannes begeistert aufgenommen und mit dem Preis für die beste Regie ausgezeichnet und unlängst mit einem Golden Globe prämiert, könnte sich Schnabels bewegender Film um einen vollständig Gelähmten als einer der Überraschungshits diesen Jahres herausstellen – zumindest im Arthouse-Segment.

Der Film beruht auf dem gleichnamigen Buch des ehemaligen Chefredakteurs der französischen Ausgabe von Elle Jean-Dominique Bauby, der 1995 im Alter von gerade mal 43 Jahren einen schweren Schlaganfall erlitt, der seinen Hirnstamm massiv schädigte. Von einem Tag auf den anderen war der umtriebige Journalist und Vater zweier Kinder vollständig gelähmt, alleine das Augenlid des linken Auges folgte noch seiner Kontrolle, jede sonstige Form der Kommunikation war hingegen unmöglich geworden – und das bei klarem Bewusstsein. Mediziner bezeichnen diesen Zustand als so genanntes "Locked-in-Syndrom", das nicht mit einem Wachkoma verwechselt werden sollte, bei dem das Bewusstsein der Patienten meist stark eingeschränkt ist. Bauby lernte mit Hilfe einer Logopädin ein kompliziertes System der Kommunikation, das es ihm ermöglichte, mit seiner Umwelt durch Bewegungen des intakten Augenlides zu kommunizieren und schließlich sogar ein ganzes Buch über seine Erfahrungen in der Taucherglocke seines Körpers eindringlich zu schildern. Und dieses Buch zählt wohl zu den faszinierendsten und erschreckendsten Erfahrungsberichten eines solchen Daseins. Nur wenige Tage nach dem Erscheinen des Buches am 6. März 1997 verstarb sein Autor an den Folgen eines Herzschlages.

Wer das Buch kennt, kommt nicht umhin anzuerkennen, wie wenig nahe die Verfilmung eines solch schwierigen Themas lag, schließlich schildert die literarische Vorlage vor allem Innenansichten, Gedankenfetzen und Erinnerungen eines komplett Gelähmten, die auf den ersten Blick nur schwer in eine erzählerische Haltung umzuwandeln sind. Julian Schnabel löst dieses Grundproblem auf ebenso einfache wie konsequente und schlüssige Weise, indem er uns die erste halbe Stunde des Films ausschließlich Baubys Blickwinkel zeigt, uns gleichermaßen mit einsperrt in den Körper eines Mannes von wachem und brillantem Geist und vollständig gelähmtem Körper. Mit Hilfe einer Logopädin (Marie-Josée Croze) und einer Therapeutin (Olatz Lopez Garmenida) gelingt es dem Kranken schließlich, sich der Welt mitzuteilen und an seinen Erfahrungen und Gedanken teilhaben zu lassen.

Erst mit der Zeit weitet sich der Kamera-Blick, wird offener, mobiler und flexibler, doch Baubys Perspektive auf das Geschehen bleibt stets im Fokus des Geschehens, denn es sind seine Erinnerungen, seine Gedanken, an denen Schnabel und sein fulminanter Kameramann Janusz Kaminski uns teilhaben lassen. Und diese Freiheit der Gedanken, sie sind der Titel gebende Schmetterling, der keine Lähmung kennt, sondern leicht umherschweift und die Stationen des bisherigen Lebens Revue passieren lässt. Wir sehen, wie Bauby, vor seiner Erkrankung ein verantwortungsloses Arschloch, sich im Laufe der Zeit verändert, wie er tiefsinnig und gnadenlos ehrlich sein bisheriges Leben überdenkt und feststellt, dass es trotz allen Erfolgs nichts weiter als eine Aneinanderreihung vieler kleiner Fehlschläge war. Er erinnert sich an die Lieben seines Lebens, seinen Vater (Max von Sydow) und bedauert die Momente des Glücks und die Gelegenheiten, die er achtlos vorüberziehen ließ. Doch all das lässt ihn keineswegs verzweifeln, im Gegenteil, er erlebt die vielleicht beste Zeit seines Lebens, denn "auch Unbeweglichkeit ist eine Quelle des Glücksgefühls."

Schmetterling und Taucherglocke / Le scaphandre et le papillon ist nicht nur ein erfrischend unsentimentaler Film über eine entsetzliche Krankheit und einen Mann, der erst im größten Unglück sein wahres Ich entdeckt, er ist auch ein Meta-Film über das Wesen des Kinos selbst. Denn was sind wir anderes als Eingesperrte, wenn wir im Dunkel der Lichtspiele sitzen, beinahe bewegungslos, unfähig zu kommunizieren und den Launen eines Auges ausgeliefert, das uns ein Leben zeigt? Julian Schnabel zeigt die Möglichkeit der Rückeroberung des eigenen Lebens auf, sein Film ist eine Ode an das eigene wahre Bewusstsein und an das Leben, in dem wir trotz aller Beschränkungen immer noch der unumschränkte Herrscher der Bilder, der Regisseur sein können. Und vielleicht ist es genau dies, was diesem Film so eine ungeheure Kraft und solch einen ungebrochenen Optimismus verleiht. Er kombiniert die Schwere des Schicksals, ein Eingeschlossener in einer Taucherglocke zu sein, mit der Leichtigkeit eines Schmetterlings.

Ohne jeden Zweifel zählt Schmetterling und Taucherglocke / Le scaphandre et le papillon zu den Kinoereignissen des Jahres und zu den Filmen, die man unter gar keinen Umständen verpassen sollte – es sei denn, man legt keinen Wert auf neue Erfahrungswelten und tiefe Einsichten in die Natur des menschlichen Lebens.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/schmetterling-und-taucherglocke-2007