Das jüngste Gewitter

Das Leben – eine Nummernrevue

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

"Freue dich also, Lebendger, der lieberwärmeten Stätte, ehe den fliehenden Fuß schauerlich Lethe dir schauerlich netzt", schrieb Johan Wolfgang von Goethe in seinen Römischen Elegien. Und diese Aufforderung an einen Lebenden will Roy Andersson (Song from the Second Floor / Sånger från andra våningen, 2000) als Motto für seinen neuen Film Das jüngste Gewitter / Du Levande verstanden wissen, der mit den Versen Goethes beginnt.
Zuerst weiß man gar nicht, wie man diesen Bilderbogen deuten soll: Es sind an die 50 Episoden, in die Roy Anderssons Film Das jüngste Gewitter / Du Levande zerfällt. Alle Szenen sind in einer einzigen Einstellung fast ohne jegliche Kamerabewegung gedreht und schildern Fragmente aus dem Leben verschiedener Person, die mit den unterschiedlichsten Widrigkeiten des Alltags zu kämpfen haben. Immer wieder geht es um Apathie, um die Unfähigkeit zur Kommunikation, um das Warten, um Hoffnungen, Ängste und den ganz normalen Wahnsinn des Alltags.

Da erzählt beispielsweise ein Handwerker während der Fahrt im Berufsverkehr von einem seltsamen Traum, in dessen Verlauf er während einer Familienfeier den alten Tischtuchtrick versucht und eine gesamte festliche Tafel mit wertvollem antikem Geschirr abräumt. Als der Tisch auf diese Weise abgeräumt ist, sind hier zwei Swastikas als Intarsienarbeiten zu sehen, was anscheinend niemanden stört. Der arme Handwerker wird ob seiner frevelhaften Tat vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt, woraufhin sein Anwalt in wimmerndes Wehgeschrei ausbricht – eine Szene, die beinahe wie eine Mischung aus Luis Buñuel und Franz Kafka anmutet. Traum und Realität, sie sind wie in den Filmen der Surrealisten und ihrer Nachfolger wie David Lynch nicht voneinander zu unterscheiden. Und vielleicht, so drängt sich der Verdacht auf, ist ja der gesamte Film Roy Anderssons nur ein (Alp-)Traum, der ausschließlich seinen eigenen Gesetzen folgt.

Die Starrheit der Kamera, die fast unbemerkt einige Male doch zoomt, die Tristesse der Dekors, die gebrochene, grau-grüne Farbpalette, die den Film beherrscht, das kalte Neonlicht und die starren, emotionslosen und kreideweißen Gesichter der Darsteller – dies alles macht den Eindruck einer Vorhölle, eines Wartens auf das ersehnte Hereinbrechen einer Apokalypse, die einem reinigenden Gewitter gleich diesen Haufen trostloser Gestalten endlich erlöst. Und doch ist Das jüngste Gewitter / Du Levande nicht so trostlos, wie das vielleicht anklingen mag. Geschickt versteht es Andersson, seinem Ensemble trauriger Verlierer auch eine sehr spezielle absurde Komik mit auf den Weg zu geben, so dass sie trotz allen Elends niemals so ganz zu fallen drohen. Zwischendrin wird ein Lied gesungen, eine Tuba und eine großes Trommel gespielt, ein munteres New Orleans Jazz-Stück erklingt, das so gar nicht zu der gedrückten Stimmung passen will. Dann fallen Sätze, die ständig zeigen, wie wenig die Menschen voneinander wissen, wie wenig sie verstehen und wie sehr sie konträr zu dem handeln, was sie ständig von den Anderen einfordern.

Es ist ein schwebendes Gleichgewicht, dass der Regisseur uns zeigt, eine Zwischenwelt zwischen Alltag und Utopie, Realität und Tod, Traum und Tristesse. Vielleicht werden am Ende die Bomber kommen, die ein Mann in seinem Traum sieht, vielleicht beschreibt der Film tatsächlich die Absurdität des Daseins, das Leben in Zwischenräumen und –welten oder gar die letzten Tage der Menschheit. Doch bis es soweit ist, gilt es das Dasein mit Stoizismus, Stolz und ein wenig grimmigem Humor zu ertragen. Und zu hoffen. Auch wenn man nicht weiß worauf.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-juengste-gewitter