Ausgerechnet Bulgarien - Angelika Schrobsdorff und ihre Familie

Geschichte(n), die das Leben schreibt

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

An der Lebensgeschichte der Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff und dem Weg, den ihre Familie nahm, lässt sich das ganze Drama der deutschen Geschichte nachempfinden. Die 1927 in Freiburg geborene und in Berlin aufgewachsene Tochter einer assimilierten Jüdin und eines Berliner Textilkaufmannes flüchtete 1939, in buchstäblich letzter Sekunde, gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester Bettina nach Bulgarien – eine provisorische Heimat, in der Juden während des Zweiten Weltkrieges relativ sicher waren. Trotzdem kam es immer wieder zu Konflikten, die Schrobsdorffs blieben immer "die Deutschen" oder auch "die Faschisten", was der Schwester in späteren Jahren während des kommunistischen Regimes sogar Lagerhaft einbrachte. Trotzdem wurde Bettina scheinbar in Bulgarien sesshaft, heiratete und bekam zwei Kinder. Angelika hingegen blieb auch äußerlich eine Heimatlose, Entwurzelte, zog aber bereits 1947 nach Deutschland zurück. Ihr erster Roman mit dem Titel Die Herren, der 1961 erschien, geriet zu einem literarischen Skandal, das Buch wurde zeitweise verboten, bevor es seiner Autorin dann doch einigen Erfolg einbrachte. 1971 heiratete sie den französischen Filmemacher Claude Lanzman, mit dem sie in Paris lebte, bis es sie 1983 nach Jerusalem zog – weg von ihrem Mann, der wie sie spöttisch bemerkte, nach ihrer Heirat nur noch mit seinem Film Shoah verheiratet war. Seit 2006 wohnt Schrobsdorff wieder in Berlin – ein Zick-Zack-Kurs, wie er für viele Menschen mit der traumatischen Erfahrung des Exils geradezu typisch ist.
Christo Bakalskis Dokumentarfilm Ausgerechnet Bulgarien - Angelika Schrobsdorff und ihre Familie ist ein sehr zurückhaltender, leiser Film, bei dem allenfalls die temperamentvollen Mitglieder des Clans die Bedächtigkeit der Bilder und Szenenfolgen durchbrechen. Was zunächst auffällt ist, das Fehlen jeglichen historischen Bildmaterials, stattdessen sind es vor allem die Autorin und ihre Nichte Evelina, die ungeschminkt und unverblümt von den Wegen und Irrwegen der Familie berichten, zunächst in Berlin, dann in Sofia und in Plovdiv. So viel Raum für die Hauptakteurin hat aber auch seinen Preis: Man muss sich im Leben der immer noch jugendlich wirkenden Schriftstellerin schon gut auskennen, um sich in dem Film zurechtzufinden. Da der Film auf erklärende Off-Kommentare und andere Hilfsmittel verzichtet, fällt die Orientierung schwer, wer in welchem Verhältnis und in welcher Beziehung zu wem steht. Außerdem bleiben wichtige Stationen in Angelika Schrobsdorffs Leben unbeachtet, stattdessen verliert sich die Dokumentation an manchen Stellen in scheinbaren Nebensächlichkeiten wie den Berufswünschen eines Verwandten. Selten nur hört man das Insistieren des Regisseurs, der der Schriftstellerin und ihrer Familie allen Raum lässt, damit sie selbst ihre Geschichten erzählen können und diese nicht erzählt werden. Um den Film wirklich bis in die letzten Verästelungen zu verstehen, ist eine nochmalige Lektüre der größtenteils autobiographischen Schriften von Angelika Schrobsdorff unerlässlich. Dann erst erschließt sich ein Universum aus Zerrissenheit, Familiensinn und Erinnerungsfetzen – ein wahres Familiendrama des 20. Jahrhunderts.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ausgerechnet-bulgarien-angelika-schrobsdorff-und-ihre-familie