Someone Beside You

Wer einen Verstand besitzt, kann ihn auch verlieren

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Von einem Tag auf den anderen verrückt zu werden – das kann jedem von uns passieren. Und doch ist dieses Thema so tabuisiert wie sonst nur der Tod – obwohl unsere Sprache ständig mit Vokabeln aus diesem verdrängten Bereich spielt: Wir flippen aus, rasten aus, drehen durch – vor Freude vor Trauer, vor Wut. Und ist nicht sogar ein gewisses (sozial normiertes, genau bemessenes) Maß an Verrücktheit das Salz in der Suppe der Persönlichkeit? Edgar Hagens spannende Dokumentation Someone Beside You ist eine Reise in das Wesen von Psychotikern, eine Odyssee in eine fremde Welt, die manchmal nur ein Haarbreit neben der unsrigen "normalen" Welt liegt.
Das Wohltuende dabei ist, dass es vor allem die "Kranken" selbst sind, die den Zuschauer auf sehr eindrückliche Weise an ihren Erfahrungen und ihrer Weltsicht teilhaben lassen. Selbst Jakob Litschig, der Kaspar, Andrea und Anonymus in seinem Wohnmobil an jene Ort begleitet, an denen die Psychose jeweils ausbrach, hat eigene Erfahrungen mit der Krankheit und verlor 1997 aufgrund eines psychiatrischen Gutachtens die Berechtigung, eine eigene Praxis zu führen. Rückblickend betrachtet ist dies für den Therapeuten ein Glücksfall, denn ohne diesen Ballast konnte er sich ganz und gar der Forschung nach dem Wesen der Psychose widmen und ein freies, selbst bestimmtes Leben führen.

Doch Jakob Litschig und seine Patienten sind nicht die einzigen, die Hagen im Laufe seiner Reise in die Tiefen der menschlichen Seele aufsucht. Denn die Inspirationsquelle für seine neuen Ansätze in der Behandlung psychisch Kranker liegen bei dem buddhistischen Mönch und Psychiater Edward Podvoll, der – bereits schwer vom Krebs gezeichnet – vollkommen neue Wege in der Behandlung von psychisch Kranken gegangen ist, indem er ihren Berichten unbedingten Glauben schenkt und psychotische Schübe vor allem als spirituelle Krisen begreift. Psychische Erkrankungen sind für ihn nichts Unnormales, sie können jedem widerfahren. Vor allem aber sind sie heilbar, was mit vielen Lehrmeinungen der Psychologie und Psychiatrie radikal bricht.

Auch Eric Chapin, Psychotherapeut im Windhorse-Projekt in Boulder, Colorado ist ein Anhänger der Methoden Podvolls und wendet sich in den Jahren von der klassischen Psychiatrie ab, um den neuen Wegen seines Vorbildes zu folgen. Ebenso folgt auch Lama Lhundrup alias Dr. Tilman Borghardt der, in der Auvergne lebt, den Spuren seines Weggefährten Edward Podvoll und verknüpft die spirituelle Welt des Buddhismus mit der Arbeit mit psychisch Erkrankten. Man mag diesen Ansätzen gegenüberstehen, wie man will, die Einblicke, die dieser Film in die Seelenwelt von Psychotikern gibt, werfen ein neues Licht auf die verdrängte Erkrankung: Wenn er psychotisch sei, so berichtet Kaspar, einer der Patienten Jakob Litischigs, auf sehr eindringliche Weise, setze das eine ungeheure Energie in ihm frei, vergleichbar mit jener Kraft, die während eines Prozesses der Kernspaltung erzeugt werde. Doch die Kraft bewirkt auch, dass Kaspar das Gefühl hat, keine Seele mehr zu haben, sie durch die zerstörerische Kraft in sich aus dem Leib gejagt bekommen zu haben. Es sind diese Sätze, die sich nachdrücklich einprägen, ihre Anschaulichkeit verdeutlicht uns, welch sensibles Gebilde unsere Seele ist und wie leicht wie ihrer verlustig werden können, um nicht mehr wir selbst zu sein.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/someone-beside-you