Nichts geht mehr

Der große Sprung

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Konstantin (Jörg Pohl) steht auf dem Zehn-Meter-Brett und traut sich nicht. Inmitten der nächtlichen, dunklen Halle des Bochumer Schwimmbads steht er oben und schaut hinab ins Dunkel. Dort irgendwo im kühlen Nass paddelt sein Bruder August (Jean-Luc Bubert), lamentiert und will ihn zum Springen bewegen. Schließlich traut sich Konstantin doch. Aber dieser nächtliche Sprung ins kalte Wasser ist nichts im Vergleich zu dem, was den beiden Brüdern noch bevorsteht. Denn August hat eine Idee, die gewaltige Folgen nach sich ziehen wird, ein Schulbuben-Streich, der das Leben der beiden verändert.
Mit Farbeimer, Pinsel und einer langen Teleskop-Stange bewaffnet ziehen die beiden nachts los und beschmieren auf einer zentralen Kreuzung von Bochum die Ampeln mit Farbe, so dass am nächsten Tag der gesamte Verkehr zum Erliegen kommt. Die ganze Aktion, mehr aus Jux mit dem hingepinselten Motto „Nichts geht mehr!“ versehen, wird von der Polizei und den Medien aber als terroristischer Akt interpretiert und bald schon befindet sich die Staatsgewalt auf den Fersen der beiden gefährlichen Übeltäter. Da August, geschmeichelt vom plötzlichen Ruhm im Underground, sich gerne mit der verwegenen Tat brüstet, weiß die Polizei schnell, dass die beiden Brüder hinter dem perfiden Anschlag stecken, so dass nur noch die Flucht hilft. Gott sei Dank sind die Eltern von Konstantins neuer Flamme Marit (Nadja Bobyleva) in Hannover gerade auf Reisen, so dass August und Konstantin dort untertauchen können. Doch auch hier kommt der neu erwachte politisch-kämpferische Geist Augusts nicht zur Ruhe; über ihnen wohnt eine WG, die sich ebenfalls für revolutionäre Aktionen begeistern kann. Zu den neuen Freunden gehört auch die attraktive Studentin Hanna (Susanne Bormann), vor der sich August gerne als möglichst verwegener Untergrundkämpfer in Szene setzen möchte. Während Konstantin sich nur noch seine Ruhe wünscht, riskiert August immer mehr – der Bruch zwischen den beiden Brüdern ist vorprogrammiert…

Der Vergleich mit Die fetten Jahre sind vorbei – er liegt auf der Hand, auch wenn Florian Mischa Böders Film Nichts geht mehr einen wesentlich leichteren und ironischeren Ton anschlägt – zumindest am Anfang. Hier wie dort geht es um jugendliches Aufbegehren, um Aktionen gegen den glatt gebügelten Mainstream-Alltag, um das Ausbrechen aus einer reglementierten Welt, die als bedrückend empfunden wird. Doch im Gegensatz zu den zwar naiven, aber politisch durchaus bewussten Jan und Peter aus Hans Weingartners Film sind Konstantin und August ausschließlich blauäugig. Das politische Bewusstsein, dass der ältere der beiden sich aneignet, ist eine Rolle, in der er sich gefällt, eine letztlich hohle und bedeutungslose Pose, in der es nur darum geht, sexy und cool zu wirken. Über zwei Drittel des Films funktioniert Florian Mischa Böders Geschichte auch ganz wunderbar, wobei vor allem das Brüdergespann prächtig harmoniert. Überhaupt ist Nichts geht mehr eine Art Leistungsschau junger aufstrebender Darsteller – neben dem mit dem Max-Ophüls-Preis ausgezeichneten Jörg Pohl agieren auch Jean-Luc Bubert, Nadja Bobyleva und Susanne Bormann stimmig und symapthisch. Herrlich finster mit irrlichterndem Blick ist auch Oliver Bröcker, der bereits in Die fetten Jahre sind vorbei zu sehen war. Gegen Ende des Films, als der Konflikt der beiden Brüder mehr und mehr in den Mittelpunkt und der Grundton zunehmend ernster gerät, verliert die Geschichte etwas an Schwung, und der Schluss mag nicht jedermanns Zustimmung finden. Unterm Strich aber bleiben vor allem die starke Anfangsidee, die jungen unverbrauchten Gesichter und eine angenehm selbstironische Stimmung in Erinnerung – ein stimmiges Debüt also mit kleinen Macken.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/nichts-geht-mehr