Chiko

Hamburg-Dulsberg - das wahre Gangster's Paradise

Eine Filmkritik von Katrin Knauth

Die Geschichte von Chiko ist im Kino nicht neu: Kleiner Straßengangster träumt von schicken, schnellen Autos, schönen Frauen und einem luxuriösen Appartement. Aber auch Respekt und Anerkennung im Milieu der Dealer und Kriminellen. Erst werden die weichen Drogen und dann die Chemischen unter die Leute gebracht, Hindernisse eiskalt aus dem Weg geräumt und schon ist man oben an der Spitze. Und wenn die einmal erreicht ist, fangen die richtigen Probleme erst an und man stürzt in ein tieferes Loch, aus dem man ursprünglich gekommen ist. So eine Geschichte hat Brian de Palma mit Scarface (1983) erzählt. Und das ist auch einer der Filme, die den 28-jährigen Regisseur Özgür Yildirim zu Chiko inspiriert haben.
Sein "Scarface" ist der titelgebende Chiko, brillant gespielt von Denis Moschitto, den man aus Torsten Wackers Süperseks (2004) und Anno Sauls Kebab Connection (2005) kennt. Chiko ist ein Deutschtürke, der im Hamburger Vorort Dulsberg lebt, kein sozialer Brennpunkt, aber eines der ärmsten Viertel der Hansestadt. Özgür Yildirim ist dort aufgewachsen und weiß also, wovon er spricht. Mit Chiko wollte er so etwas wie einen Ghettofilm drehen und führt im Presseheft La Haine (1995) von Mathieu Kassovitz als zweiten Referenzfilm an. Wie sein französischer Kollege ging es auch Yildirim um die Authentizität der Figuren, Schauplätze, Sprache und schließlich auch der Story an sich.

Yildirim lässt seinen Chiko also ebenso wie "Scarface" aufsteigen, aber auf kleinerer Ebene. Hamburg ist eben nicht Miami. Mit seinen besten Kumpels Tibet (Volkan Özcan) und Curly (Fahri Ogün Yardim) an der Seite schafft es Chiko in null Komma nichts an den Big Boss der Szene heranzukommen: Musikproduzent und Drogendealer Brownie (Moritz Bleibtreu). Brownie führt ein luxuriöses Doppelleben: Das eine ist von Drogen, Gewalt und Prostitution dominiert, das andere von einer heilen Familienwelt mit Ehefrau, Sohn und Vorstadtvilla. Die Skrupellosigkeit Chikos beeindruckt Brownie und er gibt Chiko was er will: einen Job als Dealer. Einzige Voraussetzung: Chiko muss zehn Kilo Gras in zehn Tagen loswerden und das nur in einer Wohnung, auf keinen Fall auf der Straße. Das Geschäft läuft bombastisch, das Geld fließt, die Träume werden greifbarer. Alles in Butter, würde Tibet nicht den folgenschweren Fehler begehen und auf eigene Rechnung Brownies Gras auf der Straße verticken. Was er nicht merkt, Brownies Leute beobachten ihn dabei.

Tibets Betrug ist der Anfang vom Ende, denn er bringt eine Gewaltspirale in Schwung, die die natürliche Konsequenz im Gangstermilieu ist: Da geht es um Zusammenhalt zwischen Brüdern, um Ehre und Respekt, um Statussymbole, aber auch um Buße und Rache. Und weil in der Dreierkonstellation Tibet-Chiko-Brownie letztendlich jeder mit jedem eine offene Rechnung zu begleichen hat, findet das Drama ein äußerst unversöhnliches Ende. Chiko war ganz oben, an der Seite von Brownie, aber Tibet war im Weg und weil er seinen "Bruder" nicht einfach wegmachen kann, stürzt Chiko im Steilflug ab.

Einige Kritiker haben die Gewaltverherrlichung des von Fatih Akin produzierten Films angeprangert, doch zu Unrecht. Denn Chiko hat genau das richtige Maß an Brutalität des Drogenmilieus und das ist weit entfernt von den Schießereien, die man aus Hollywood kennt. Es fallen nur die Schüsse, die fallen müssen und es fließt nur das Blut, das fließen muss – ansonsten wäre es kein Ghetto- und Gangsterfilm geworden. Und dafür ist er auf das Wesentliche reduziert und ohne ein Gramm Fett zuviel inszeniert.

Mit Denis Moschitto, Volkan Özcan und Moritz Bleibtreu hat Özgür Yildirim ein grandioses Trio Infernale gecastet. Alle drei verkörpern Figuren so eindringlich und realistisch, was der Glaubwürdigkeit des Films sehr zugute kommt. Er lässt sie diesen schmutzigen Straßenslang sprechen, "Digga" und "Alter" zurufen, böse Gesichter ziehen und so unversöhnlich aussehen, dass man ihnen jede Zeile, Geste und Tat auch wirklich abnimmt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/chiko