10 Fragen an den Dalai Lama

Faszinierendes Charisma

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Doch genau dieses inspirierende Erlebnis, das die eigene geistige Welt bereichert, verschafft der Dokumentarfilm von Rick Ray über eine der faszinierendsten Persönlichkeiten unserer Zeit. Vor zwei Jahren fertiggestellt, bekommt der Film durch die jüngsten Ereignisse in Tibet eine traurige Aktualität.
Der Dalai Lama hat viele Gesichter. Er sieht sich selbst als einfachen Mönch. Aber er ist gleichzeitig eine Person der Weltöffentlichkeit mit einem ganz eigenen, Ost und West bewegenden Charisma. Was treibt diesen außergewöhnlichen Menschen an, der mit seiner Botschaft Angela Merkel genauso zu begeistern scheint wie Grünen-Chefin Claudia Roth? Der Amerikaner Rick Ray gibt darauf eine vielschichtige Antwort. Sie geht weit über ein dürres Interview hinaus, wie es der Filmtitel vermuten lassen könnte.

Dokumentarfilmer Rick Ray lässt den Zuschauer die Vorgeschichte seines Treffens mit dem geistlichen und politischen Oberhaupt der Tibeter miterleben. Wegen eines anderen Drehs war der Amerikaner nach Indien gereist, mit der vagen Hoffnung, den Dalai Lama treffen zu dürfen. Doch die Zusage bleibt zunächst aus – bis eine einfache Email den Durchbruch bringt. Rick Ray bekommt eine Audienz von 45 Minuten, er darf zehn Fragen stellen, nicht mehr. In drei Monaten ist der Termin, genügend Zeit, um sich mit dem Land und der Vorgeschichte bekannt zu machen. Die Kamera entführt uns in die ebenso grandiose wie karge Bergwelt auf dem „Dach der Welt“. Sie lässt uns spüren, wie sich in einer solchen Landschaft das Leben quasi von selbst auf die geistige Welt konzentriert, wie Meditation und Ruhe in einer majestätischen Natur die einfachen Wahrheiten so klar hervortreten lassen.

Die Bilder vom Klosterleben und den Zeremonien sind unterlegt mit dem tiefen Raunen tibetischer Musik. Doch die meditative Stimmung gleitet nie ins Esoterische ab. Rick Ray nähert sich dem menschenleeren Land mit westlichem Blick, wohlwollend und neugierig, aber nie die eigene Herkunft und das eigene Denken verleugnend. Wenn er dann das geistige und politische Oberhaupt in Dharamsala, dem indischen Exil, trifft, sind wir – auch durch eingespieltes Archivmaterial – bestens vorbereitet auf den biografischen und historischen Grund, auf dem die Einsichten „Seiner Heiligkeit“ gewachsen sind.

Die 10 Fragen an den Dalai Lama / 10 Questions for the Dalai Lama sind solche, die den Zuschauer vielleicht auch umtreiben. Zum Beispiel die nach dem Glück: Warum sind arme Menschen oft glücklicher als Reiche? Der Dalai Lama hat darauf eine klare Antwort. Weil die Armen zufrieden sind, wenn sie am Ende eines Tages das Nötigste zum Überleben geschafft haben. Für die Gier nach immer mehr bleibe da überhaupt kein Raum, und das sei auch in geistiger Hinsicht gut so. Einfache, eindeutige Worte zu einem Thema, das die westliche Glücksforschung erst mal mit Hunderten von empirischen Untersuchungen abklopfen würde, die den sinnsuchenden Laien nur noch mehr verwirren.

So ist es mit allen von Rick Rays Fragen: hier der westliche Intellektuelle, der sich bewusst ist, wie viele Regalmeter Bücher zu jedem dieser Themen schon geschrieben wurden. Dort der buddhistische Mönch, der zu den komplexesten und umstrittensten Debatten ebenso weise wie einfache Worte findet. Etwa zu der Frage, ob man gegen Völker mordende Diktatoren das Prinzip der Gewaltfreiheit nicht modifizieren muss. Die Antwort: ja, wenn das eigene Leben und die eigene Gesundheit in Gefahr sind. Aber dann ist die verteidigende Gewalt Selbstschutz und darf nie darüber hinausgehen.

Tragischerweise ist der 72-Jährige, der seit 1959 nicht mehr in seiner Heimat leben darf, derzeit erneut mit dieser Frage von Diktatur und Gewaltfreiheit konfrontiert. Wenn man Rick Rays Film gesehen hat, darf man sicher sein, dass der Weise mit dem bübischen Lächeln auch dieses Mal die richtige Antwort findet.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/10-fragen-an-den-dalai-lama