XXY

Von der Freiheit, seine Identität zu wählen

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Alex (Inés Efron) ist 15 Jahre alt und gerade mit ihren Eltern (Ricardo Darín und Valeria Bertuccelli) von Buenos Aires nach Uruguay gezogen, an einen kargen, dünn besiedelten Küstenabschnitt. Hier soll das Mädchen endlich zur Ruhe kommen, denn Alex trägt ein Geheimnis mit sich herum, das immer wieder für Gerede und wilde Spekulationen sorgt: Aufgrund einer hormonellen Störung ist sie sowohl Mädchen wie auch Junge, sie ist eine Intersexuelle. Der Umzug bringt nur eine vorübergehende Linderung der psychischen Qualen, denn binnen kurzer Zeit gibt es abermals Gerede und Getuschel.
Alex will endlich ihre Ruhe haben, will keine Medikamente mehr zu sich nehmen, man ahnt schnell, dass sie das alles nicht zum ersten Mal über sich ergehen lassen muss. Doch wie soll man geschlechtsreif werden, wenn man beide Geschlechter in sich fühlt? Alex’ Mutter hat da ihre eigenen Vorstellungen: Sie will das in der Kindheit Versäumte nachholen und hat deshalb den Chirurgen Ramiro (Germán Palacios) mitsamt seiner Familie eingeladen, um sich mit ihm über einen Eingriff zu beratschlagen. Alex findet Gefallen an Ramiros Sohn Alvaro (Martin Piroyansky), die beiden kommen sich näher...

Eines im Voraus: Wer medizinisch bewandert ist, dem dürfte auffallen, dass der Titel des feinen Debütfilmes von Lucía Puenzo trotz aller Griffigkeit in die Irre führt. Denn während XXY auf ein Klinefelter-Syndrom hinweist, das nur bei Jungen bzw. Männern auftritt, die über ein zusätzliches X-Chromosom verfügen und die nicht operiert werden können, verhält es sich bei dieser Geschichte anders: Alex (aber, von der der Film erzählt, leidet unter dem Andrenogenitalen Syndrom (AGS). Sie ist rein genetisch eine Frau, verfügt also über ein XX-Chromosomenpaar, doch eine angeborene Hormonerkrankung der Nebenniere bewirkt eine vermehrte Produktion von Androgenen, also jenen Hormonen, die die "Vermännlichung" verursachen (DHEA, Androstendion, Testosteron). Puenzo weiß sehr wohl um die Unterschiede, wie sie selbst im Presseheft zu ihrem Film betont, doch es geht ihr bei allem Interesse an den pathologischen Aspekten des Falls vor allem um die philosophischen Implikationen, die sich für Alex, aber auch für alle anderen Menschen stellen – ob sie nun intersexuell sind oder nicht: "XXY spricht von der Freiheit, seine Identität zu wählen und sein Begehren zu leben." Ein Thema also, das nicht nur Intersexuelle, sondern jeden Menschen interessieren dürfte.

Die Art und Weise, wie der Film von der Freiheit und vom Begehren erzählt, ist beeindruckend. Leise und eindringlich, ohne Voyeurismus und mit größtmöglicher Sensibilität nähert sich Lucía Puenzo ihrer Figur an, fängt die Verwirrung von Alex genauso ein wie ihren jugendlichen Trotz und ihr pubertäres Aufbegehren. Die androgyn wirkende Inés Efron liefert zudem eine absolut bravouröse Leistung ab und spielt einen argentinischen Leinwandstar wie Ricardo Darín streckenweise richtiggehend an die Wand. Ein in allen Belangen sehenswerter und sehr intensiver Film zu einem spannenden Thema, der neugierig macht auf Lucía Puenzos nächsten Film.

XXY erhielt im Jahre 2007 beim Festival von Cannes den großen Preis in der Sektion Semaine de la Critique und wurde außerdem 2008 mit dem Goya (so der Name des spanischen Filmpreises) für den besten spanischsprachigen Film aus Übersee ausgezeichnet. Auch in Athen und Bangkok konnte XXY Preise einheimsen, und beim Festival von Edinburgh gab es zudem die Auszeichnung als bester Debütfilm.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/xxy