True North

Sterben und Überleben auf hoher See

Eine Filmkritik von Markus Fritsch

Zwanzig illegale chinesische Einwanderer wollen per Schiff nach Schottland. Bevor sie an Bord gehen, müssen sie sich eine glaubwürdige Geschichte für ihre Flucht überlegen, falls sie geschnappt werden. Daran scheint das Mädchen Su Li (Angel Li) zu scheitern. Unter Tränen sagt sie immer wieder, dass sie Geld verdienen muss. Doch die Flüchtlinge sind nicht die einzigen Menschen, die in diesem Film ums Überleben kämpfen: Die Fischerei in der Nordsee läuft für die Besatzung des Fischkutters „Providence“ schon lange schlecht. Der alte Skipper (Gary Lewis) steht kurz vor seiner Rente, doch die Bank will das Boot verschrotten lassen. Sein Sohn Sean (Martin Compston) will nicht, dass sein Vater nach 32 Jahren sein Boot verliert und an Land auf den Tod warten muss. So geht er zu dem Schmuggler Pol (Harke Bohm), der ihm eine Ladung Zigaretten besorgen soll. Doch Pol hat eine andere Fracht für Sean: 20 illegale chinesische Einwanderer, für die es viel Geld gibt. Heimlich werden die Chinesen an dem schlafenden Vater vorbei in den vorderen Frachtraum des Fischkutters geschleust. Nur die kleine Su versteckt sich im Maschinenraum. Der Maat Riley (Peter Mullan) ist überrascht von dem vielen Geld, das er für den Schmuggel bekommen soll. Seine Aufgabe ist es, nachts den Eimer zu leeren, der den Chinesen als Toilette dient. Doch die Probleme beginnen mit dem Auslaufen. Sean will erst Fische fangen, um vor dem Zoll nicht in Verdacht zu geraten. Ein Sturm zieht herauf. Der Aufenthalt in dem nasskalten Frachtraum wird mehr wie ungemütlich. Su stiehlt sich immer wieder Essen aus der Küche und hinterlegt chinesische Geldscheine als Bezahlung. Der Koch (Steven Robertson) bemerkt dies. Er hinterlegt einen Köder, auf den Su Li hereinfällt. Doch Su hat Glück, denn der Koch kümmert sich rührend um sie. Der Fischfang auf hoher See bei Sturm ist enttäuschend. Riley, Sean und der alte Skipper wollen die Netze jedoch weiter im Meer lassen. Währendessen verschlechtert sich die Situation für die Flüchtlinge dramatisch. . .
Mit tragischem Realismus zeigt Steve Hudsons Debütfilm True North das langsame Sterben der schottischen Fischerei und verknüpft es mit der Not illegaler Einwanderer – der Kampf ums Überleben ist so etwas wie das Leitmotiv dieses Films. Trotzdem vermeidet das Drama bei aller notwendigen Zuspitzung jegliche Schwarzweiß-Malerei, sondern setzt vor allem auf die stimmige Psychologie der Figuren und der Handlung: Alle Beteiligten treffen ihre Fehlentscheidungen aus einer inneren Notwendigkeit heraus, so dass sich die Lage auf dem Kutter immer mehr zuspitzt.

Episch umkreist die Kamera von Peter Robertson immer wieder den kleinen Fischkutter auf hoher See. Die Weite, in die das Schiff hinein fährt, bildet das Gegenteil zu der klaustrophobischen Enge an Bord des Kutters. Auf engem Raum zusammengepfercht, werden die Protagonisten zu Getriebenen. In jeder Situation spürt man die brodelnden Konflikte unter der Oberfläche. Die Szenen an Bord wurden mit einer beweglichen Steadycam gedreht, was den Realismusgehalt verstärkt. Regisseur und Drehbuchautor Steve Hudson ist in seinem Debütspielfilm ein spannungsreiches Drama gelungen, das realistisch und erschreckend ist. Als Ausgangspunkt für True North nahm er den Erstickungstod von 58 illegalen chinesischen Einwanderern in Dover. Diese starben, weil der LKW-Fahrer, aus Angst vor Entdeckung, alle Luftklappen geschlossen hatte.

Auch das Sterben der schottischen Fischereiflotte hat einen realen Hintergrund. Hudson recherchierte mehrmals im Fischereihafen Fraserburgh im Nordosten Schottlands. Innerhalb von zwei Jahren verlor Fraserburgh aus wirtschaftlichen Gründen die Hälfte seiner Flotte. Ohne falsche Sentimentalität gelingt es Hudson, Menschen in ihrer existentiellen Not zu zeigen. Paradigmatisch für dieses unschuldig in Not geraten, steht die kleine Su, der ihre Kindlichkeit zum Überleben hilft. Schauspielerisch ist dies eine Meisterleistung. Auch die übrigen Darsteller tragen zum Gelingen des Films bei. True North fesselt mit Spannung auf engstem Raum und ist von seinem Realismusgehalt harter Tobak. Unberührt lässt der Film den Zuschauer auf keinen Fall zurück.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/true-north