Tage und Wolken

Willkommen im Prekariat!

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Der soziale Abstieg, das Abrutschen in prekäre Lebensverhältnisse und die damit verbundenen Erfahrungen von existenzieller Not – dies alles gehört mittlerweile wohl zu den größten Ängsten des Bürgertums in Mitteleuropa. Dass dieses Gespenst keinesfalls nur in Deutschland umgeht, sondern auch Italien betrifft, zeigt Silvio Soldini, der Regisseur von Brot und Tulpen / Pane e Tulipani in seinem neuen Film Tage und Wolken / Giorni e Nuvole. Und obwohl der Film in Genua angesiedelt ist und die Hafenstadt an der Riviera immer wieder ins Bild rückt, könnte die Geschichte, die Soldini erzählt, überall in Mitteleuropa spielen – in Hamburg oder München, in Marseille oder Liverpool.
Elsa (Margherita Buy) und Michele (Antonio Albanese) sind ein Paar Mitte 40, das in gesicherten Verhältnissen lebt und deren beinahe erwachsene Tochter Alice (Alba Rohrwacher) längst auf eigenen Füßen steht. Während Elsa zu Beginn des Films ihre Doktorarbeit in Kunstgeschichte abschließt und ohne nennenswerte Bezahlung an der Uni arbeitet, verdient Michele als Geschäftsführer einer Firma das Geld, von dem die beiden ihren recht hohen Lebensstandard bestreiten. Das Paar lebt in einer großzügigen Altbauwohnung, reist gerne, trifft sich häufig mit Freunden zum Essen – kurzum: sie führen ein sorgenfreies Leben. Was Elsa allerdings nicht weiß und erst nach ihrer Promotion erfährt: Die Fassade des gutbürgerlichen Lebens hat Brüche bekommen, Michele wurde von seinen Partnern aus der Firma gedrängt und ist seit zwei Monaten schon ohne Job – die finanzielle Lage ist längst angespannt, ohne dass Elsa davon allzu viel mitbekommen hätte.

Unter dem wachsenden finanziellen Druck ist es vor allem die Kunsthistorikerin, die sich den Herausforderungen stellt und aktiv wird – sie gibt ihre Arbeit an der Uni auf und besorgt sich zwei Jobs, um zumindest ein klein wenig Geld in die Kasse zu bringen. Michele hingegen ist frustriert und voller Bitterkeit über seine ehemaligen Kollegen und Freunde, die ihn einfach aus der Firma gedrängt haben.

Schnell zeichnet sich ab, dass die Wohnung nicht lange zu halten sein wird, zumal Micheles Bemühungen um eine neue, adäquate Arbeit ohne Erfolg bleiben. Doch immer noch wird gegenüber den Freunden der Schein gewahrt, werden Rechnungen für gemeinsame Abendessen im Restaurant bezahlt, obwohl das Geld dafür eigentlich längst nicht mehr reicht. Schließlich nimmt der Frustrierte sogar einen Job als Bote an und renoviert mit zwei ebenfalls arbeitslosen ehemaligen Mitarbeitern seiner früheren Firma Wohnungen in dem einfachen Viertel, in das Elsa und er umziehen.

Und es ist nicht allein die finanzielle Lage, die sich als belastend erweist: Je länger die schwierige Lage von Elsa und Michele anhält, desto mehr wird auch ihre Beziehung zu einer Zerreißprobe. Alle Sicherheit ist dahin, ob das Paar die Belastungen gemeinsam meistern wird, gestaltet sich zunehmend offen...

Angenehm zurückgenommen und leise, mit viel Gespür für Zwischentöne erzählt Silvio Soldini seine Geschichte eines sozialen Abstiegs und beobachtet dabei, welche Auswirkungen solche Veränderungen auf die Menschen und ihre Beziehungen zueinander haben. Die Schlichtheit und Unaufgeregtheit der Inszenierung lässt vor allem Raum für sorgsame und präzise beobachtete psychologische Nuancen. Unmerklich verkehren sich die tradierten Geschlechterrollen und -verhältnisse, die selbst im aufgeklärten italienischen Bürgertum immer noch erstaunlich stark zu sein scheinen: Während Michele zum ersten Mal vielleicht Ohnmacht, Hilflosigkeit und Wut ob der erlittenen Demütigungen erlebt, ist es die bislang vor allem den schönen Künsten zugewandte Elsa, die sich letzten Endes als pragmatisch und anpackend erweist und nicht resigniert.

So ganz ohne Pathos geht es aber auch bei diesem Film über den langsamen sozialen Abstieg nicht: Wie häufig in italienischen Filmen, so ist auch hier zuerst die Filmmusik zu nennen, die häufig Szenen großer Intensität mit einer dicklichen Klangsoße zukleistert. Und dass am Ende das Paar wieder zueinander findet, ist zwar schön (auch für den Zuschauer), es bleibt aber zu vermuten, dass dieses kleine Glück im großen Unglück nicht jedem Paar beschieden ist, das sich in ähnlicher Lage befindet.

Dass Silvio Soldinis Tage und Wolken / Giorni e Nuvole einen wunden Punkt getroffen hat und die Ängste vieler Menschen reflektiert, lässt sich auch an dem Erfolg ablesen, der diesem Film in seiner Heimat beschieden war: Mehr als 1,3 Millionen Zuschauer strömten in die Kinos, um den Film zu sehen. Außerdem erhielt Tage und Wolken / Giorni e Nuvole zwei Auszeichnungen beim italienischen Filmpreis David di Donatello.

Wenn Elsa und Michele am Ende auf dem Boden liegen und auf das restaurierte Deckengemälde schauen, über das Elsa in ihrer Promotion schrieb, dann ahnt der Zuschauer, dass sich der wahre Schatz nicht in der Höhe, sondern auf dem Boden der Tatsachen befindet – es ist die Solidarität eines Paares, das sich dazu entschlossen hat, zueinander zu halten: In guten wie in schlechten Tagen. Dies mag manchem Zuschauer vielleicht in letzter Konsequenz naiv erscheinen, doch Soldini zeigt angesichts gewaltiger gesellschaftlicher Veränderungen und Unsicherheiten, dass die sozialen Haltenetze längst ersetzt sind durch die privaten und persönlichen Beziehungen. Gut, wer in schweren Zeiten auf solch ein persönliches Netz und eine stabile Beziehung bauen kann.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/tage-und-wolken