Lenin kam nur bis Lüdenscheid

Die 68er – mit den Augen eines Kindes

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Viel wird dieses Jahr über die 68er geschrieben und gesendet. So viel, dass es manche nicht mehr hören können. Aber dieser Dokumentarfilm ist einzigartig – und unbedingt sehenswert. Das liegt daran, dass er es schafft, anhand eines individuellen Schicksals die Zeitgeschichte neu zu erzählen.
Wenige dürften in einer Familie aufgewachsen sein wie der von Richard David Precht: Die Eltern adoptieren in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren zwei vietnamesische Waisenkinder, Richard schwärmt im stockkonservativen Solingen für Dynamo Kiew und hält die DDR für das beste Land der Welt. Das klingt gewollt lustig, wie ein Stück aus dem Kuriositäten-Kabinett. Ist es aber nicht.

Drehbuchautor Richard David Precht und der erfahrene Dokumentarfilmregisseur André Schäfer erzählen die Geschichte des Autors aus einem konsequent kindlichen Blickwinkel. Sie schaffen damit Raum für zwei große Augen, die die Experimente und Abenteuer dieser wilden Jahre bestaunen und bewundern, aber auch recht eigenwillig in den jeweiligen Kosmos eines Drei-, Fünf- oder Elfjährigen einordnen. Obwohl der Ich-Erzähler eigentlich nur sein ganz privates Leben schildert, schafft es der Film, die kollektive Geschichte von 1964 bis 1989 auf eine Weise zu erzählen, die anrührend ist auch für jene, die solche oder ähnliche Archivbilder schon hundert Mal gesehen haben.

Richard David Precht wird 1964 geboren. Er hat neben den adoptierten Geschwistern einen weiteren Bruder und eine weitere Schwester. Die Familie lebt in Solingen, also jener konservativen Provinz, in die Lenin – der Name steht symbolisch für die Revolution – niemals kam. Der Sozialismus schafft es nämlich nur nach Lüdenscheid. Das liegt 25 Kilometer östlich von Solingen. Dort gibt es jedes Jahr ein Zeltlager der sozialistischen deutschen Arbeiterjugend, in dem die neue Welt wirklich zu sein scheint und die Familie endlich mal keine Außenseiterbande ist.

Im Laufe der Jahre durchlebt der heranwachsende Richard so alles, was ein ordentlicher Linker durchmachen muss: Vietnam-Proteste, antiautoritäre Erziehung, Feminismus, RAF und Anti-Atom-Bewegung. Nur den Schwenk zu den Grünen und der Friedensbewegung der 1980er Jahre macht er im Gegensatz zu seinen Eltern nicht mehr mit. Das ist ihm alles zu weinerlich und nicht links genug. Seine Kindheit endet nach eigenem Bekunden erst 1989, mit 24 Jahren. Mit dem Fall der Mauer zerbricht sein Weltbild. Verwundert reibt er sich die Augen und stellt fest, dass er auf eine Gesellschaft vorbereitet wurde, die es nie geben wird.

Es gibt einige Kinder von 68er-Eltern, die sich über ihre Kindheit bitter beklagt haben. Precht tut das nicht, aber er ist auch kein Beschöniger. Den unverwechselbaren Charme von Lenin kam nur bis Lüdenscheid macht stattdessen ein wunderbar ironischer und doch warmherziger Tonfall aus: das Kunststück, die eigene Geschichte voll und ganz annehmen und gleichzeitig darüber schmunzeln zu können.

Wie für die meisten Kinder gab es auch für den kleinen Richard gut und böse, richtig und falsch. Nur war für ihn halt meistens das Gute, was für die anderen des Teufels war. Wunderschön zum Beispiel seine Schwärmerei für Oleg Blochin, den Linksaußen von Dynamo Kiew. Wie der die Bayern-Abwehr austanzte, war das nicht der klare Beweis, dass der Sozialismus siegen würde? Für den bösen Beckenbauer bleibt da nur ein despektierlicher Vergleich. War die Diva auf dem Libero-Posten nicht die Uschi Glas des deutschen Fußballs?

Kommt in solchen Szenen das einfühlsame Mitgehen mit dem damaligen Welt-Erleben zu seinem Recht, so setzen die heutigen Gespräche zwischen Precht und seiner Schwester Hanna einen humorvollen, aber nie denunzierenden Kontrapunkt. Da dürfen sie die Bücher aufs Korn nehmen, die sie schon damals nicht verstanden haben. Oder die angeblich freie Sexualität, die dann doch mehr in der Theorie stattfand.

Es ist schon wahr: Eigentlich kann man die Hoffnungen und Dramen, die Träume und Auswüchse jener Jahre niemandem vermitteln, der die Zeit nicht selbst erlebt hat. Aber Precht und Regisseur Schäfer schaffen es, sie so lebendig werden zu lassen wie schon lange nicht mehr. Vielleicht sogar in Solingen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/lenin-kam-nur-bis-luedenscheid