Ihr Name ist Sabine

Meine Schwester und ich

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wie gravierend die Veränderungen sind, die Sabine Bonnaire widerfuhren, kann man nicht nur sehen, sondern auch - und das ist beinahe noch beeindruckender – hören. Zum Beispiel, wenn sie am Klavier sitzt in Bachs Präludium anstimmt. Als Jugendliche ist der Vortrag ambitioniert, flüssig, nicht brillant, aber stimmig. In späteren Jahren, als sie bereits deutlich von der Krankheit und der jahrelangen Behandlung mit hoch dosierten Psychopharmaka gezeichnet und aufgeschwemmt ist, stolpert die Musik, klingt fahrig, abgehackt und kaum mehr zusammenhängend. Sabine Bonnaire leidet unter Autismus, genauer unter einer autistischen Form der Psychoinfantilismus. Und sie hat eine berühmte Schwester, die Schauspielerin Sandrine Bonnaire, die in unzähligen französischen Filmen von Regisseuren wie Maurice Pialat, Agnès Varda, André Téchiné, Claude Chabrol, Claude Sautet und Patrice Leconte mitwirkte. Sandrine Bonnaire hat ihren ersten Film als Regisseurin über ihre Schwester Sabine gedreht. Herausgekommen ist dabei ein Werk, das man so schnell nicht vergessen wird.
Insgesamt elf Kinder hatte die Familie Bonnaire, doch Sabine war schon immer das Sorgenkind. Sie galt als aufgeweckt und quirlig, aber auch als schwierig, benötigte eine besondere Betreuung, wurde in der Schule nur die "verrückte Sabine" genannt. Alle Maßnahmen, die Krankheit des Mädchens in der Griff zu bekommen, blieben vergebens, die Sonderschule, die sie besuchte, schickte das Mädchen bereits nach kurzer Zeit wieder nach Hause, wo die Mutter und Geschwister die Versorgung der zunehmend aggressiven Sabine übernahmen. Um diese zu entlasten, holte Sandrine Bonnaire ihre jüngere Schwester schließlich nach Paris und engagierte zwei private Pflegekräfte. Doch als auch diese immer häufiger angegriffen wurden, blieb nur noch der Weg in die Psychiatrie, wo Sabine 5 Jahre lang medikamentös behandelt wurde. Und erst hier wurde – nach einem Leidensweg für alle Beteiligten – zum ersten Mal eine Diagnose erstellt – eigentlich ein Skandal. Als Sabine im letzten Jahr entlassen wurde, hatte sie 30 Kilo zugenommen und war zu einer komplett unselbständigen Person geworden, die dank der Initiative ihrer berühmten Schwester in einer Wohngruppe auf dem Land untergebracht werden konnte. Dort hat sich ihr Zustand erheblich verbessert, die Medikation konnte um die Hälfte reduziert werden.

Eine Odyssee, die aufzeigt, dass in Frankreich eine eklatante Versorgungslücke bei der Unterbringung erwachsener Behinderter herrscht. Und so ist Sandrine Bonnaires Film über ihrer Schwester nicht nur ein sehr persönliches Werk geworden, sondern auch ein politisches – zum Glück. Denn trotz aller Verbundenheit verliert die Regisseurin niemals die Gesamtzusammenhänge aus dem Auge, ohne deshalb ihre Schwester zu verraten.

Es gibt wahrhaft leichtere Übungen, als seinen Erstlingsfilm ausgerechnet über ein enges Familienmitglied zu machen. Denn gerade die Nähe zum Porträtierten erweist sich oftmals als Hemmschuh und verkehrt sich ins Gegenteil, wenn die Distanz und der neutrale Blick sich in Sentimentalität verwandelt. Im Regiedebüt der Schauspielerin Sandrine Bonnaire über ihre autistische Schwester Sabine gelingt das Vorhaben, ohne deshalb die Stärke der besonderen Nähe zu verleugnen.

Ein trauriger Film ist Ihr Name ist Sabine / Elle s’appelle Sabine zweifelsohne geworden. Und ein wütender zugleich. Doch bei allen negativen Gefühlen bleibt ein sehr tröstliches Gefühl zurück, das den Zuschauer mit den Bildern und Stimmungen versöhnt und ihn hebt – dass die Liebe zu einem Menschen selbst den schrecklichsten Verfall überdauern kann. Genau das ist die Botschaft, die von diesem Film im Gedächtnis bleibt. Und zugleich ist der Film auch ein flammender Appell an die Verantwortlichen in Politik und Gesundheitswesen, die Kranken und ihre Angehörigen nicht einfach im Regen stehen zu lassen. Man hofft inständig, dass dieser Kampf erfolgreich sein wird. Und dass die Diskussionen, die dieser Film bereits ausgelöst hat, weitergehen werden.

Das Thema Autismus lässt Sandrine Bonnaire nicht mehr los: In J’te souhaite au revoir von Guillaume Laurant, zu dem sie das Drehbuch verfasste und in dem sie die Hauptrolle übernimmt, wird sie sich wieder der Krankheit annehmen und selbst eine Autistin spielen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ihr-name-ist-sabine