Wolke 9 (2008)

Ein Damoklesschwert namens Wahrheit

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Mit den ersten Bildern sehen wir eine Frau, die sich voller Konzentration in ihre Näharbeit vertieft hat, den Blick gesenkt, die Hände in präziser Bewegung den Stoff durch eine Nähmaschine führend. Dann geschieht es: Während Inge (Ursula Werner), schon jenseits der 60, weiterarbeitet, können wir den Namen der Nähmaschine entziffern, deren Schrift neben ihrem Kopf auftaucht – eigentlich ein unwichtiges und nebensächliches Detail, doch die Marke prägt sich ein – "Veritas". Oder auf deutsch: "Wahrheit". Man ahnt es schnell: Die Wahrheit wird in diesem Film eine wichtige Rolle spielen - und zwar auf mehreren Ebenen der Betrachtung.

Wenig später klingelt Inge an der Tür des 76-jährigen Karl (Horst Westphal), für den sie eine Hose geändert hat. Es werden verstohlene Blicke getauscht, und vieles deutet darauf hin, dass sich hier zwei Menschen gegenüber stehen, die Gefallen aneinander gefunden haben. Es kommt zu ersten Berührungen, zu Zärtlichkeiten, die schließlich in Sex münden. Und es hat den Anschein, dass vor allem Inge das in ihrem Leben, ihrem anderen Leben mangelt. Denn Inge ist seit mehr als 30 Jahren mit Werner (Horst Rehberg) verheiratet, einem ehemaligen Lehrer, der wenig spricht und sich am liebsten damit beschäftigt, den unterschiedlichen, auf Tonträger gebannten Geräuschen von Zügen zu lauschen. Doch während er noch ergriffen alten Dampflokomotiven zuhört, verstellen sich unmerklich die Weichen seiner Ehe und damit auch seines Lebens. Denn so sehr Inge auch dagegen ankämpft, sie kann nicht von Karl lassen. Ihre Tochter Petra (Steffi Kühnert) ist zunächst fassungslos, dass ihrer Mutter so etwas passiert – "in deinem Alter." Dann beschwört sie Inge, von der Affäre nur ja nichts nach außen dringen zu lassen.

Auch Inge ist fassungslos über das Geschehene, doch sie beherrscht das Spiel mit dem Betrug und der Unwahrheit nicht. Je mehr sie sich Karl annähert, desto unglücklicher wird sie: Sie kann nicht anders, sie sagt Werner die Wahrheit – weil sie ihm das schuldig ist. Doch die Wahrheit löst die ganze Mechanik von Enttäuschung, Wut, Hilflosigkeit, Vorwürfen und Trennung aus, die schließlich in einer menschlichen Tragödie mündet.

Eine tragische Liebesgeschichte ist es also, die Andreas Dresen in Wolke 9 schildert, eine beinahe normale Geschichte aus dem realen Leben – mit dem einzigen Unterschied, dass Inge älter als 60 ist und die beiden Männer bereits die 70 überschritten haben. Schützt das Alter vor den Torheiten und den Schmerzen, die oftmals mit der Liebe, zumal jener im Konflikt zwischen zwei geliebten Menschen einher geht? Dresens Antwort ist eindeutig – Nein. Und vielleicht liegt darin ja trotz aller Düsternis auch ein gewisser Trost – zu wissen, dass große Gefühle mit allen positiven und negativen Begleiterscheinungen sich niemals abschwächen, dass es uns jederzeit erwischen kann. Das ist eine Verheißung und eine schreckliche Bedrohung zugleich.

Dresens Film ist sein mit Sicherheit strengster und düsterster – auch wenn sein Gefühl für Lichtstimmungen von großer Wärme und Erhabenheit zeugt. Doch die Liebe des Regisseurs zu seinen Figuren und zu seinen Darstellern führt niemals dazu, dass er die Rolle des Beobachters von Emotionen, des Chronisten einer tragischen Liebesgeschichte aufgibt. Wie er beispielsweise den Ausbruch Werners nach Inges Geständnis in Bilder umsetzt, wie er dessen Hilflosigkeit und den Wunsch, der Wut über das Geschehene freien Lauf zu lassen mit der Kamera einfängt, zeugt von großer Meisterschaft und einem exzellenten Zusammenspiel von Regie, Skript und Darstellern. Oft fühlt man sich an Filme der "Berliner Schule" erinnert, doch Dresens Film ersetzt die Umbarmherzigkeit und Gefühlskälte des analysierenden Blicks durch Nähe und Wärme – und bleibt trotzdem unbestechlich.

Andreas Dresen und seine wunderbaren Darsteller, die den Film gemeinsam – nur basierend auf einem losen Storygerüst – erarbeiteten, führen uns die Realitäten vor Augen, die dieses fragile Gebilde namens Leben bedrohen – das Alter, die Liebe, das Begehren und den Tod. Man kann die Augen davor verschließen und sich gar nicht erst in diesen Film wagen, doch das wäre ein großer Fehler: Selten sah man so viel Mut in einem so schlichten, klaren und doch unvergleichlich guten Film.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wolke-9-2008