Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra (2008)

Im siebten Kreis der Hölle

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

In Italien, so hat es den Anschein, gibt es eine Renaissance des politischen Kinos. Und selten sah man dies so deutlich, so verdichtet, wie im diesjährigen Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes, wo neben Paolo Sorrentinos galliger Abrechnung mit Giulio Andreotti Il Divo vor allem ein zweiter Film für Aufsehen sorgte: Matteos Garrones Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra / Gomorra. Das Interesse kam nicht von ungefähr, denn bereits das Buch, auf dem dieser Film beruht war in Italien wie auch in anderen europäischen Ländern wie eine Bombe eingeschlagen – Roberto Savianos Gomorrha. Jahrelang hatte der süditalienische Journalist im Umfeld der neapolitanischen Camorra undercover recherchiert und anschließend sein Buch verfasst, das auf kongeniale Weise Romanhaftes mit Elementen der Reportage vermischt und dabei schonungslos die Praktiken der Camorra und deren Hintermänner und Drahtzieher benennt. Das Buch wurde zu einem Bestseller, von dem allein in Italien mehr als 1,4 Mio. Exemplare verkauft wurden, sein Autor Roberto Saviano lebt seitdem aus Furcht vor Racheakten im Untergrund und steht unter ständiger Polizeibewachung.

In seiner Verfilmung, bei der Roberto Saviano selbst am Drehbuch mitwirkte, greift Matteo Garrone fünf Episoden aus der literarischen Vorlage heraus und verwebt diese zu einem engmaschigen Gewebe, das immer wieder zwischen den einzelnen Geschichten hin und her springt. Was sie miteinander verbindet ist vor allem die Ansieldung in den tristen Vororten Neapels wie Scampìa und die Allgegenwärtigkeit der Camorra, die nahezu alle Lebensbereiche umfasst: Da ist beispielsweise die Geschichte des dreizehnjährigen Totò (Salvatore Abruzzese), dessen Vater im Knast sitzt und vom Clan der Scissonisti di Secondigliano unterstützt wird. Als der Junge sich jedoch dem Clan di Lauro anschließt – einfach weil er nichts anderes kennt als die Camorra – , gerät er zwischen die Fronten der beiden rivalisierenden Banden. Eine andere Episode handelt von Don Ciro (Gianfelice Imparatio), einem braven Buchhalter, der im Auftrag der Camorra den Verwandten toter oder inhaftierter Clanmitglieder Gelder ausbezahlt – eine Art Pensionskasse, mit der die Loyalität der Menschen sichergestellt werden muss. Auch er gerät unter die Räder, weil er vergeblich versucht, sich seiner Aufgabe und damit seiner Verstrickung in den Apparat zu entziehen.

Roberto (Carmine Paternoster) hingegen hat mehr Glück: Als er entdeckt, dass sein Boss (Toni Servillo) hoch giftige Chemikalien illegal in Steinbrüchen lagert und nicht einmal davor zurückschreckt, Kinder als Chauffeure der gefährlichen Ware zu missbrauchen, steigt er aus – ein Akt der Anständigkeit und Ehrlichkeit, wie er anscheinend eine absolute Ausnahme darstellt. Die beiden Jugendlichen Marco (Marco Macor) und Ciro (Ciro Petrone) hingegen besitzen weniger Verstand: Sie fantasieren davon, einmal zu mächtigen Bossen aufzusteigen, doch als sie den echten Bossen in die Quere kommen, ist ihr Leben keinen Deut mehr wert.

Und zuletzt gibt es noch den braven Schneider Pasquale (Salvatore Cantalupo), der in einer der zahlreichen Fabriken arbeitet, bei der auch die teure Ware der Haute Couture angefertigt wird. Als er sein Wissen an den chinesischen Inhaber einer konkurrierenden Firma weitergibt und sich mit den Asiaten anfreundet, wird er von den Hintermännern seiner eigenen Fabrik erbarmungslos gejagt.

"Die Realität, von der ich ausgegangen bin, um GOMORRHA zu drehen, war optisch so eindrucksvoll, dass ich sie mit extremer Einfachheit zu filmen versucht habe, so, als wäre ich ein Zuschauer, der sich rein zufällig am Schauplatz des Geschehens eingefunden hat. Ich glaube, das war die effektivste Herangehensweise, um die Gefühle zu reproduzieren, die ich hatte, während ich an dem Film gearbeitet habe", so beschreibt Matteo Garrone seine Herangehensweise an diesen Film.

Alles an diesem Film ist schmutzig, verkommen und verdreckt und beinahe jeder Farbigkeit beraubt wie in jener Anfangssequenz, als eine ganze Reihe von Kleinganoven im Sonnenstudio von Schüssen niedergestreckt wird: Schon das UV-Licht, in dem sie ihre Grimassen schneiden und Zoten reißen, lässt sie wie geisterhafte Fratzen erscheinen, wie Zombies oder Tote. Und immer wieder versteht es Garrone, die triste Realität wie einen Ort aus Dantes Beschreibung der Hölle erscheinen zu lassen. Die geisterhafte Siedlung, in der Kleinkinder neben Drogendealern spielen, das dreckige Gewässer, in dem Marco und Ciro ihre kindlichen Schießübungen abhalten, das gleißende Licht der Müllkippe, auf der die Giftfässer vergraben werden – dies alles sind reale Beschreibungen der verschiedenen Kreise der Hölle, aus denen es kein Entrinnen gibt.

Nach dem mehr als zweistündigen Film fühlt man sich trotz insgesamt recht großer emotionaler Distanz zum Geschehen wie erschlagen ob der Wucht der Geschehnisse, der Undurchschaubarkeit der Beziehungsgeflechte und der Allgegenwärtigkeit von Gewalt, Abhängigkeit und Tod. Wie nun genau die einzelnen Handlungen miteinander verbunden sind und wie es mit den Menschen weitergeht, diese Erkenntnisse bleiben dem Zuschauer weitgehend verwehrt – gerade so, als handele es sich dabei lediglich um eine "ganz normale" Momentaufnahme des Lebens in Neapel und Umgebung, bevor die Kamera und damit unsere Aufmerksamkeit woanders hinschwenkt und versucht, das soeben Gesehene wieder zu verdrängen.

Gomorrha - Reise in das Reich der Camorra / Gomorra ist ein verwirrendes, kaleidoskopartiges Puzzle, ein fragmentarisierter Flickenteppich aus Gewalt, Korruption und tiefster moralischer Verkommenheit, mitten in Europa. Das ganze Ausmaß des Bösen, auch das zeigt der Film in seiner zerstückelten Struktur, können wir sowieso niemals begreifen.

 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/gomorrha-reise-in-das-reich-der-camorra-2008