Der Junge im gestreiften Pyjama

Eine Filmkritik von Silvy Pommerenke

Während der achtjährige Bruno glaubt, er würde in der Nähe eines großen Bauernhofes leben, auf dem Menschen in komisch gestreiften Pyjamas arbeiten, ist die grauenhafte Wahrheit jenseits seines Vorstellungsvermögens. Denn es handelt sich um ein Konzentrationslager, in dem Juden gequält, missbraucht und vernichtet werden.

Was Bruno (Asa Butterfield) auch nicht weiß ist, dass sein Vater (David Thewlis) der Lagerkommandant ist und unter dem Zeichen des Totenkopfes an seinen Kragenspiegeln einen Vernichtungszug gegen die Inhaftierten durchführt. Ganz langsam entdeckt der kleine Bruno einzelne Schichten des fürchterlichen Geheimnisses und will doch nur eines: gleichaltrige Kinder finden, mit denen er spielen kann. Entgegen des Verbotes der Eltern erkundet er das Gelände hinter dem Wohnhaus und entdeckt die äußere Grenze des Konzentrationslagers. Aber nicht nur das, sondern er findet sich Auge in Auge wieder mit dem gleichaltrigen Shmuel (Jack Scanlon), der gezeichnet von Entbehrungen und Folter auf der anderen Seite des Stacheldrahtes sitzt. Trotz dieser denkbar unmöglichen Voraussetzungen freunden sich die beiden Kinder an und vergessen für kurze Momente das trostlose und schreckliche Leben um sie herum. Während Shmuel, immer wenn die SS-Wachen unduldsam ihre Trillerpfeifen ertönen lassen, zurück in die Baracke flüchtet, führt Bruno der Weg zurück in die Villa seiner Eltern und seiner Schwester Gretel (Amber Beattie), die im modernen Bauhaus-Stil errichtet ist und in der es an nichts mangelt. Nach einiger Zeit schöpft selbst Brunos Mutter (Vera Farmiga) langsam den Verdacht, dass ihr Gatte für die entsetzlichsten Dinge verantwortlich ist. Letztendlich bringt sie der unerträgliche Gestank von Verbranntem und die unbedachte Äußerung von Leutnant Kotler (Rupert Friend) zu der Gewissheit, dass jenseits ihrer vermeintlich heilen Welt unsagbare Dinge geschehen, in die ihr Mann maßgeblich verstrickt ist und die auch Bruno in einen erbarmungslosen Abgrund führen werden ...

Der Film, der den gleichnamigen Roman von John Boyne zum Vorbild hat, spielt mit den unterschiedlichsten Emotionen des Zuschauers. Vor allem wird die Frage aufgestellt, ob man mit einem genauer umrissenen Individuum mehr Empathie empfinden kann als mit einer großen unbekannten Gruppe. Zwiespältig sind die Gefühle, die man bei dem Film hat, denn einerseits ist er durch seine Stilisierung des Äußeren und Reduzierung des Inneren nicht wirklich historisch kritisch zu bezeichnen, andererseits wird aber genau dadurch der Raum eröffnet, diese Geschichte als Metapher oder Allegorie zu sehen: Die vermeintlich perfekte und ausgeklügelte Tötungsmaschinerie der SS-Schergen unterscheidet nicht mehr zwischen Deutschen und Juden, Opfern und Tätern, Gut und Böse, sondern in dem Moment, wo Bruno eine Sträflingskleidung übergezogen hat, wird er von außen gekennzeichnet, und ihn ereilt ein bis dahin nicht vorhergesehenes Schicksal. Das gleiche gilt für die sechs Millionen ermordeter Juden, die der Willkür und dem Vernichtungswahn der Nazis zum Opfer fielen. Exemplarisch werden in Der Junge im gestreiften Pyjama zwei von ihnen gezeigt: Pavel (David Hayman), der Zwangsarbeiter im Hause der Familie und Shmuel, der achtjährige Junge, mit dem sich Bruno über den Stacheldraht des KZs hinweg anfreundet. Das solch eine Freundschaft unter den damaligen Umständen gar nicht möglich gewesen wäre, liegt auf der Hand. Wohl kaum hätten die beiden Jungen – jeder auf der anderen Seite der Absperrung sitzend – unbehelligt eine Partie Mühle spielen können. Aber diese Freiheit der Phantasie hat sich der irische Autor John Boyne 2006 – wofür er mit mehren Preisen ausgezeichnet wurde - und nun der britische Regisseur Mark Herman herausgenommen, denn nur so kann die Geschichte letztendlich funktionieren.

Der Zuschauer wird mit der bangen Frage konfrontiert, warum man für Bruno, der "zufällig" ins KZ gekommen ist, unter Umständen mehr Empathie aufbringt, als mit den anderen Häftlingen. Oder, dass man es fast als gerechte Strafe für den Lagerkommandanten empfindet, dass sein Sohn durch Unachtsamkeit das gleiche tödliche Schicksal der Juden erfährt. Diese Gedanken werden peinlich berührt sofort verworfen, aber sie lassen den Film nachhaltig in Erinnerung bleiben. Ähnlich wie bei der Literaturverfilmung von Bernhard Schlink Der Vorleser - bei der man sich ertappt, dass man mit der KZ-Aufseherin Hanna Schmitz Mitleid hat - handelt es sich um verbotene Gefühle, die man historisch betrachtet nicht haben dürfte. Dennoch drängen sie sich unwillkürlich auf. Und genau das ist auch die Leistung von Der Junge im gestreiften Pyjama, denn er regt zum zwiespältigen Nachdenken, zum genauen Hinsehen an und schildert die Unschuld von Kindern, an denen sich Erwachsene vergehen. Vor allem aber wird der Film Diskussionen eröffnen, bei denen sich jeder einzelne über das Vermögen oder Unvermögen von Empathie hart ins Gericht nehmen muss. Und damit erfüllt man letztendlich eine Intention des Autors John Boyne, der in einem Interview sagte: "If you start to read this book, sooner or later you will arrive at a fence. Fences like this exist all over the world. We hope you never have to encounter such a fence."

Der Junge im gestreiften Pyjama wurde als Eröffnungsfilm des Jüdischen Filmfestes 2009 gezeigt und erhielt von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden das Prädikat "besonders wertvoll".
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer/der-junge-im-gestreiften-pyjama