Liebestoll im Abendrot

Je oller, desto doller

Eine Filmkritik von Red.

Besser (oder schlechter – je nachdem) hätte man einen Filmstart wohl kaum terminieren können: Zeitgleich mit Andreas Dresens Tragödie Wolke 9 kam Shinji Imaokas thematisch recht ähnlicher Film Liebestoll im Abendrot – Tasogare / Tasogare in die deutschen Kinos. Mit seinen gerade mal 64 Minuten Laufzeit in der japanischen Originalfassung mit deutschen Untertiteln und seinen Bezügen zum "Pinku Eiga"-Genre (Pinkfilm) ist Shinji Imaokas Film wohl eher etwas für die absoluten Experten und Hardcore-Fans von der Asia-Fraktion.
In Japan gehört der Pinkfilm zu den kreativsten Formen des Filmemachens und feiert dort seit den sechziger Jahren beachtliche Erfolge. Die auf ihre Art weltweit einzigartigen Pinkfilme kann man wohl als eine Kombination aus Softsex-Streifen mit relativ anspruchsvollen Geschichten bezeichnen, die beinahe ausschließlich für das Kino produziert werden. Mit der Zeit entwickelte sich ein mehr oder weniger feststehendes Gerüst für die Filme, die vor allem eines sein mussten – schnell und billig in der Produktion. Kein Wunder also, dass kaum einer der Filme länger als eine Stunde dauert und dass die Geschichten von Sexszenen in einem genau kalkulierten Abstand unterbrochen werden müssen. Doch Beschränkungen wie diese machen kreativ, wie man beispielsweise bei vielen Filmen der Dogma 95-Reihe oder bei billig produzierten Horrorfilmen unter der Ägide von Roger Corman sehen kann. Gerade Letzterer diente immerhin als Karrieresprungbrett für Großmeister des Kinos wie Francis Ford Coppola, Martin Scorsese, George Lucas, Robert Zemeckis, Peter Bogdanovich und viele andere mehr. Und so ist es kein Wunder, dass auch der Pinkfilm für viele japanische Regisseure ein reizvoller Einstieg in die Filmwelt bedeutete. Der 1965 geborene Shinji Imaoka ist freilich kein Frischling mehr, sondern ein vergleichsweise alter Hase im Pinkfilm-Geschäft, der es wie viele seiner Kollegen versteht, Nachdenkliches und brisante Themen in seinen Filmen unterzubringen – so auch in Liebestoll im Abendrot – Tasogare / Tasogare.

Als seine Frau an Krebs stirbt und ihrem Mann erst auf dem Totenbett ihre geheimen sexuellen Wünsche anvertraut, ist das gerade so, als würden sich bei Funakichi (Masaru Taga) sämtliche Schleusen öffnen. Zwar ist er schon 65 Jahre alt, doch der fidele Oldie hat immer noch viel Spaß am Sex – für seine Umwelt ist so viel Libido bei einem älteren Herrn dann doch zu viel des Guten. Gerne linst er im Supermarkt mal unter die Röcke der anwesenden Damen oder vergnügt sich mit seinen Freunden in zwielichtigen Bars – was seine Kinder freilich weniger amüsant finden.

Auf einem Klassentreffen begegnet Funakichi nicht nur seinen beiden Klassenkameraden wieder, mit denen er sich ausführlich über frühere amouröse Abenteuer austauscht (köstlich, dass für die Rückblenden keine jüngeren Schauspieler verwendet, sondern die alten Darsteller in Schuluniformen gesteckt werden – darauf muss man erst mal kommen), sondern auch seiner Jugendliebe Kazuko (Yasuko Namikibashi). Auch sie ist seit kurzem Witwe und trotz Funakichis ungelenker Anbandlungsversuche und Kazuos Hemmungen entwickelt sich zwischen den beiden eine leidenschaftliche Liebesbeziehung, die auf eine schwere Probe gestellt wird.

Auch wenn das Genre das Schlimmste vermuten lässt – Shinji Imaokas Film überzeugt durch eine ausgewogene Mischung von Humor und Tragik, Sex und Tiefgang und rührt mit seinen Figuren, die sich so gar nicht dem Schicksal des Alters fügen wollen, an Tabus, die in Japan nicht anders sind als in Deutschland. Besonders überzeugend sind vor allem die beiden Frauengestalten, die erst sehr spät lernen, was in der rigiden japanischen Gesellschaft sexuelle Befreiung (vor allem diejenige der Frau) bedeutet und wie schwierig sie zu verwirklichen ist.

Das Einzige, was man an diesem außergewöhnlichen kleinen Film wirklich bemängeln muss, ist die etwas unglückliche Wahl des deutschen Titels, der dann doch eher an schmierige "Erotikstreifen" europäischer Herkunft denken lässt. Und genau das ist Liebestoll im Abendrot – Tasogare / Tasogare eben nicht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/liebestoll-im-abendrot