Waltz with Bashir (2008)

Der Angriff der Bilder auf die Wirklichkeit

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Mit dieser Szene nimmt alles seinen Anfang: Ein Rudel wild gewordener Höllenhunde rast durch die Straßen einer Stadt, mit glühenden Augen, hängenden Lefzen und aggressiv gefletschten Zähnen lassen sie keinen Zweifel daran, dass sie bereit und willens sind, hier und jetzt alles zu töten, was sich ihnen in den Weg stellt. Gott sei Dank ist das alles nur ein Traum – oder vielleicht doch nicht? Nacht für Nacht wird Boaz von den immer gleichen, stets beklemmenden Bildern gequält, wie er seinem Freund Ari anvertraut. Bei einem nächtlichen Gespräch in einer Bar vermuten die beiden, dass der Traum irgendeinen Bezug zu ihrem Einsatz zu Beginn der Achtzigerjahre im Libanon haben muss. Doch Aris Erinnerungen an die Zeit des ersten Libanonfeldzugs sind ebenso verblasst wie die vieler anderer Kameraden. Neugierig geworden, was sich hinter all den Bildern und Gedankensplittern verbirgt, die auch ihn quälen, macht sich Ari auf die Suche nach dem, was er, Boaz und all die anderen über Jahre hinweg mühsam verdrängt haben. Seine Reise führt ihn hin zu einem bestialischen Massaker in den beiden Flüchtlingslagern von Sabra und Schatila. Doch welche Rolle die damals jungen Soldaten bei diesem grausamen Verbrechen spielten, wird sich erst ganz am Ende des Films zeigen...

Ein animierter Dokumentarfilm will Waltz with Bashir also sein. Was anfangs wie ein unauflösbarer Widerspruch klingt, beschreibt einen der aufregendsten Filme der letzten Zeit. Ari Folmans Idee, seine Erinnerungen und die Geschichte ihrer Rekonstruktion mit den technischen Mitteln des Trickfilms zu erzählen, erweist sich als ebenso wirkungsvolles wie probates Mittel, Persönliches, Historisches und Verdrängtes miteinander zu verknüpfen und daraus wahrhaft große Kunst zu schaffen. Zumal Folman und seine Trickspezialisten sich in der Kunst der Beschränkung üben und an keiner Stelle mit den großen Erzeugnissen von Dreamworks oder Pixar konkurrieren wollen.

Stattdessen gelingen Folman ohne allzu großen tricktechnischen Aufwand Bilder und Sequenzen von großer suggestiver Kraft, die immer wieder an die expressiven Licht- und Schattenspiele von Hollywoods Schwarzer Serie, an die Zeichnungen von Will Eisner und anderen Klassikern der "graphic novels" denken lassen. In gewisser Weise verfolgt Folman damit eine Art Gegenstrategie zu Hollywood, das sich in Filmen wie Der Unglaubliche Hulk, Spider Man oder etwa der äußerst erfolgreichen Batman-Reihe aus dem Fundus von Comics bedient und diese in reale Bilder rückübersetzt. Waltz with Bashir hingegen geht den umgekehrten Weg: Seine aus der Realität stammende Geschichte wird mit der Bildsprache des Comics und des Animationsfilms auf die äußerste Essenz der Geschichte reduziert und bedient sich der Freiheiten, die dieses Verfahren mit sich bringt. Man stelle sich den gleichen Film als "echten Dokumentarfilm" vor und merkt, welch befreiende Kraft in Folmans erzählerischem Trick liegt und welche neuen Freiheiten dies bewirkt: Folmans Bilder schaffen es, einen direkten Zugang zur Seele seiner Protagonisten zu bekommen, wo sonst lediglich "talking heads" vor möglichst neutralem Hintergrund von ihren traumatisierenden Erlebnissen erzählen würde.

Trotz der Distanz, die die animierten Bilder also schaffen, fühlt man sich förmlich in das Geschehen hineingezogen. Wenn am Ende reale Bilder von den Leichenbergen in Sabra und Schatila zu sehen sind, dann ist dies lediglich eine letzte Rückversicherung, dass wir in den letzten knapp anderthalb Stunden keinen perversen Albtraum gesehen haben, sondern nichts anderes als die zutiefst artifiziellen und erschreckend glaubhaften, bis an den Rand des Erträglichen verdichteten Bilder des Krieges, die niemanden mehr loslassen. Insofern ist die Befreiung, die Ari Folman hier vollzieht, eine mehrfache: Neben der Befreiung von den real vorfindbaren Bildern ist Waltz with Bashir auch und vor allem die Beschwörung der Geister der Vergangenheit und damit die Auflösung eines nicht nur nationalen, sondern globalen Traumas. Denn berücksichtigt man all die Soldaten anderer Nationen, denen in den diversen Kriegen der letzten Jahre und Jahrzehnte Ähnliches widerfahren ist, dann erkennt man schnell, welches brisante und wichtige Thema Ari Folman hier zu einem wahren Meisterwerk verwandelt hat.

Experimente wie Persepolis und A Scanner Darkly oder Waking Life von Richard Linklater und nun auch Waltz with Bashir zeigen deutlich, dass der Animationsfilm auch jenseits seiner Domäne, dem "Family Entertainment", noch ein riesiges und bislang weitgehend ungenutztes Potenzial besitzt, um Geschichten aus dem wahren Leben auf die große Leinwand zu bringen. In zehn Jahren, da kann man sich ganz sicher sein, wird man sich an diesen Film noch erinnern als eines jenes Meisterwerke, das Filmgeschichte geschrieben hat.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/waltz-with-bashir-2008