Ulak - Der Bote

Die Macht der Fantasie

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Kann ein Buch, können Geschichten die Welt verändern? Das ist eine Idee, die die Menschen immer fasziniert hat. Der türkische Regisseur Cagan Irmak macht daraus ein bildgewaltiges, märchenhaftes Epos.
Am Anfang steht ein Kontrast: hier ein Dorf, das immer mehr haben will von den Märchen, die der reisende Erzähler mitgebracht hat. Dort ein Haufen zerstrittener Menschen, die mit der Fiktion rein gar nichts am Hut haben. Die davon nichts hören und nichts sehen wollen. Bei ihnen hat es Zekeriya (Cetin Tekindor), der sanftmütige Weise mit dem grauen Bart und dem dicken Turban, schwer wie nie.

Zekeriya ist eine Gestalt wie aus Tausendundeinernacht. Der Märchenerzähler reitet von Dorf zu Dorf und gibt die Geschichte vom Boten Abraham zum besten, die er vor dem Vergessen bewahren möchte. Aber nicht nur das. Zekeriya macht seinen großen und kleinen Zuhörern klar, dass sie die Geschichte mitgestalten müssen. Er fordert sie auf, den Figuren, die in dem Märchen vorkommt, ein Gesicht zu geben: indem sich jeder Zuhörer zu jeder Märchenfigur eine reale Person aus dem eigenen Dorf vorstellt. So verschränken sich in diesem Film Realität und Fiktion von Anfang an. Das Märchen gewinnt Macht über die Menschen, es schenkt ihnen Mut, sie fangen an, sich und die Verhältnisse zu ändern.

Zekeriya kommt also in ein Dorf, das die Bezeichnung „Gemeinschaft“ nicht verdient. So zerstritten, so feindselig sind die Bewohner, dass ihr Leben nur durch das Unglück zusammengehalten wird, das sie sich tagtäglich zufügen. Da ist der despotische Adam (Yetkin Dikinciler), der seinen Sohn windelweich schlägt und alle anderen tyrannisiert. Da ist die Frau, die das ihr anvertraute halbwüchsige Mädchen tagsüber ankettet und nachts zur Prostitution zwingt. Da ist der Vater, der seinem Sohn das Lesen verbieten will. Kurzum, hier herrscht das Böse in allen seinen Variationen und Ausformungen.

Es gehört zu den Stärken von Ulak – Der Bote, dass dieses Dorfleben und die schrittweise Auflehnung trotz aller Märchenhaftigkeit realistisch gezeichnet werden. Die Abtrünnigen sind keine Superhelden, sondern Menschen mit Fehlern und Ängsten. Dass sie trotzdem vorankommen auf dem Weg zu einer menschlicheren Gemeinschaft, verdanken sie der Kraft der Einfühlung und der Fantasie. Nur wer bereit ist, sich überhaupt etwas anderes vorzustellen als das, was ist, nur wer sich berühren lässt von Worten, Geschichten und fiktiven Welten, kann dem Status quo entkommen. So weit die nachvollziehbare Botschaft.

Aber dieser realistische Kern des Films ist nur der eine Erzählstrang. An ihn heften sich Symbole und Anspielungen in oft mythisch aufgeladenen Bildern, die religiöse und philosophische Lehren transportieren. Auf dieser zweiten Ebene geht es um das Buch – der Koran, die Bibel? -, das Licht in die Welt bringt und das Böse besiegt. Es geht um Gefolgschaft – die Jünger? -, um Verrat – Petrus? -, um den Auszug aus einem verkommenen Fleck Erde.

Regisseur Cagan Irmak sieht sein Epos nach eigenem Bekunden auch als "Film über die Mevlana-Philosophie sowie über die Brüderschaft unter den Menschen". Der islamische Philosoph Mevlana lebte vor 800 Jahren. Seine Lehren sind noch heute ein wichtiger Bestandteil der türkischen Kultur, insbesondere im Sufismus, einer spirituellen Richtung des Islam. In ihr spielt der Tanz der Derwische eine wichtige Rolle, die sich beim Drehen um sich selbst in Ekstase versetzen. Mevlana begründete eine mystische Lehre, deren Ziel die Einheit mit dem Göttlichen durch die Kraft der Liebe und der Brüderlichkeit ist.

Irmaks Bildsprache atmet zweifellos etwas von diesem Geist. Für den mitteleuropäischen Zuschauer, der mit der Religion weniger am Hut hat, wirken die Anspielungen auf die Bibel und die sprechenden Namen wie Adam, Abraham oder Maria dagegen eher wie Fremdkörper. Da bleibt nur, das Ganze als Märchen für Erwachsene zu sehen. Als eine schöne Vorstellung von der Kraft des Wortes. Das ist schließlich auch eine faszinierende Idee.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ulak-der-bote