Novemberkind

Baden mit Pelzmütze

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Es war eine seiner eindrücklichsten Rollen: Ulrich Mühe in Das Leben der Anderen. Jetzt spielt seine Tochter Anna Maria Mühe eine junge Frau, die ebenfalls zwischen die Mühlsteine der deutsch-deutschen Geschichte gerät. Nicht nur wegen der schauspielerischen Leistungen ist Novemberkind ein Film, der ähnlich unter die Haut geht.
Am Anfang ist alles gut. Ein See im Mecklenburgischen, zwei Freundinnen rennen mitten im November ins eiskalte Wasser. Die jungen Frauen tollen herum wie Kinder, juchzen, was das Zeug hält. Ein schönes Bild: Inga (Anna Maria Mühe) behält im Wasser ihre Pelzmütze auf. Die wird sie auch an Land noch brauchen können: die dicke Kappe mit den Schlappohren als Markenzeichen einer jungen Frau, die durch alle Widrigkeiten hindurch ihren Weg findet.

Inga ist 25. Sie arbeitet als Bibliothekarin und fühlt sich wohl in dem kleinen Dorf im Osten Deutschlands. Hier leben ihre Großeltern, bei denen sie aufgewachsen ist. Die Mutter ist angeblich in der Ostsee ertrunken, als Inga ein halbes Jahr alt war. Es gibt ein Grab und keinen Anlass, an dieser Geschichte zu zweifeln. Bis ein mysteriöser Fremder in dem Dorf an der Seenplatte auftaucht, der im November dort vermutlich keinen Urlaub machen wird. Robert (Ulrich Matthes) ist Professor für kreatives Schreiben in Konstanz. Warum er das "schwäbische Meer" gegen die Seenplatte im Nordosten tauscht, wird nur allmählich klar. Aber durch ihn erfährt Inga etwas, was selbst ihre beste Freundin seit Jahren wusste: Ingas Mutter ist nicht im Osten gestorben, sondern 1980 in den Westen geflohen. Gemeinsam machen sich Inga und Robert auf Spurensuche durch ein blau-graues November-Deutschland: sie im Sattel ihres Motorrades, er im Beiwagen. Eine Gefühls-Landschaft – manchmal melancholisch-romantisch verklärt, dann wieder hart und realistisch.

Regisseur Christian Schwochow entfaltet in diesem Drama und Roadmovie einen erzählerischen Sog, der erstaunlich ist für einen Debütfilm. Rückblenden treiben das Geschehen voran, führen immer tiefer in menschliche Abgründe, in Verrat, Feigheit und Schuld. Die verwickelte Geschichte marschiert vorwärts wie ihre Protagonistin: zielstrebig, keinem Hindernis aus dem Weg gehend und trotzdem bisweilen taumelnd wie ein Boxer wegen all der emotionalen Tiefschläge.

"Ich nehme ihr die Identität und biete ihr Lügen", sagt Robert einmal in einem Anfall von Selbsterkenntnis. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Inga ist stark genug, sich den Tatsachen zu stellen und daran zu wachsen. Alle um sie herum sind zwar Täter. Aber Inga ist kein Opfer. Wäre sie es, wäre dieser außergewöhnliche Film nicht einmal halb so gut. Es ist die große Leistung des Drehbuchs, diese Klippe zu umschiffen. Vielleicht liegt es daran, dass Regisseur Christian Schwochow das Skript zusammen mit seiner Mutter Heide Schwochow geschrieben hat: eine sicher nicht immer einfache, aber in diesem Fall höchst produktive Konstellation. Paaren sich doch die Empörung und das Aufbruchsgefühl der jungen Generation – der Regisseur ist Jahrgang 1978 – mit dem Gespür für die Zwischentöne und dem Vermeiden von billigen Schuldzuweisungen.

Beispielhaft für die Gebrochenheit der Charaktere um Inga herum steht Ulrich Matthes als Robert. Eigentlich ist dieser Professor in der Lebenskrise ein Lügner, Ausbeuter und Zyniker. Aber Ulrich Matthes verleiht der Figur etwas verzweifelt Getriebenes, das selbst den schlimmsten Zynismus irgendwo nachvollziehbar macht. Wie er sich mit der hellwachen Anna Maria Mühe in einen Clinch aus Zuneigung und Verrat begibt, wie sich die beiden anziehen und abstoßen, wie der vielfach ausgezeichnete Theater- und Filmstar in der Nachwuchsschauspielerin einen ebenbürtigen Widerpart findet – schon das macht diesen Film sehenswert.

Am Ende sitzt Inga in einem Zug. Wohin die Reise geht, wissen wir nicht. Aber wir sehen, wie sie ein dickes Heft aufschlägt und zu schreiben beginnt. Nicht die schlechteste Art, mit einer solchen Geschichte fertig zu werden. Und das ausnahmsweise mal ganz ohne Pelzmütze.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/novemberkind