Versailles

Vom Elend jenseits des Schlosses

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Ein Außenseiter der Gesellschaft, der durch die nähere Bekanntschaft mit einem verlassenen Kind eine tief greifende Verwandlung erfährt – das ist ein Stoff, der bereits einige Male bewegende Kinogeschichte geschrieben hat. Von Charlie Chaplins grandiosem Stummfilm Der Vagabund und das Kind / The Kid aus dem Jahre 1921 über Wenn der Vater mit dem Sohne (1955) von Hans Quest mit Heinz Rühmann in der Hauptrolle und Papermoon / Paper Moon (1973) von Peter Bogdanovich mit der charismatischen Tatum O’Neal als Kinderdarstellerin bis hin zu modifizierten Krimi-Varianten wie John Cassavetes’ Gloria, die Gangsterbraut / Gloria (1980) und Léon, der Profi / Léon (1994) von Luc Besson hat dieses Thema immer wieder einmal die Filmwelten beschäftigt. Das Spielfilmdebüt des französischen Filmemachers Pierre Schoeller aus dem Jahre 2008 mit dem klingenden Titel Versailles, das nun in der Originalfassung mit deutschen Untertiteln hierzulande in den Kinos gezeigt wird, repräsentiert diese klassische Konstellation auf eine ebenso moderne wie anrührende und äußerst würdige Weise vor dem Hintergrund eines der prächtigsten Symbole der französischen Geschichte.
Während das legendäre Schloss Versailles erhaben innerhalb seiner weitläufigen Anlagen residiert, existiert jenseits dieses Prunkbaus im angrenzenden Wald verborgen ein wildes Territorium, auf dem einige Randgestalten der Gesellschaft in provisorischen Behausungen ihr so gar nicht komfortables Dasein fristen. Hier lebt auch der verschlossene Aussteiger Damien (Guillaume Depardieu), bei dem eines Tages die verwahrloste Nina (Judith Chemla) mit ihrem fünfjährigen Sohn Enzo (Max Baissette de Malglaive) nach höchst unangenehmen Begegnungen mit Obdachlosigkeit sowie der Sozialfürsorge strandet. Nach einer gemeinsamen Nacht mit Damien stiehlt sich Nina heimlich davon, wobei sie den kleinen Enzo schlichtweg in der Hütte bei ihrer flüchtigen Zufallsbekanntschaft zurücklässt. Damit beginnt für den Mann und das Kind die zunächst äußerst schwierige Geschichte einer schicksalshaften Freundschaft, denn nach anfänglichem Widerstreben beginnt Damien, sich fürsorglich und sogar aufopferungsvoll um Enzo zu kümmern, der allerdings einen Winter im Wald wohl kaum unbeschadet überstehen würde ...

Innerhalb der Reihe Un Certain Regard bei den Filmfestspielen von Cannes im Jahre 2008 uraufgeführt wurde Versailles als Bester Debütfilm mit dem Étoile d’Or der französischen Filmkritik ausgezeichnet und war zweifach für den César nominiert – auch posthum für Guillaume Depardieu, der im Oktober 2008 verstarb und hier in einer seiner letzten Rollen zu sehen ist. Die Dramaturgie des Films konzentriert sich zuvorderst auf die vielschichtige Entwicklung der Beziehung zwischen Damien und dem kleinen Enzo, die vom bezaubernden Spiel der beiden Akteure lebt und eine tiefsinnige Intensität erreicht. Unpathetisch und doch mit berührenden, starken Bildern sowie einer stimmungsvollen Musik von Regisseur und Drehbuchautor Pierre Schoeller eigens komponiert ausgestattet stellt Versailles gleichermaßen ein sozialkritisches Drama sowie letztlich eine Art modernes Märchen dar, das gerade mit dem Kontrast des historischen Schlosses einerseits und des Elends im Wald dahinter andererseits der französischen Gesellschaft von heute durchaus einen Spiegel vorhält.

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