Die Perlmutterfarbe

Wer zweimal lügt...

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Wer die Welt der Kinder ins Bild setzen will, muss guten Kontakt zu dem Kind in sich haben. Dass er dies kann, hat Marcus H. Rosenmüller in seinem fantasievoll verspielten Kinodebüt Wer früher stirbt ist länger tot gezeigt. Jetzt hat er wieder mit Hauptdarsteller Marcus Krojer zusammengearbeitet, der erneut einen fulminanten Lausbub abgibt.
Alexander heißt der Held in Rosenmüllers Kinder-Abenteuer. Der bayerische Junge ist 13 und möchte gern den Malwettbewerb um den "Goldenen Pinsel" an seiner Schule gewinnen. Doch Alexanders Stärken liegen eher in Mathe als in der Kunst. Rein theoretisch dürfte er keinen Stich gegen seinen Klassenkameraden Maulwurf (Dominik Nowak) machen, der die Trophäe schon öfter abgeräumt hat. Das ist umso tragischer, als sich die von beiden begehrte Lotte (Zoë Mannhardt aus Hände weg von Mississippi) durch künstlerische Erfolge leicht beeindrucken lässt. Aber Alexander hat Glück. Erst fällt ihm ein Buch in die Hände, aus dem man wunderbar einen lebensechten Chinesen abpausen kann. Und dann gerät er zufällig in den Besitz der zauberhaft schimmernden Perlmutterfarbe, die eigentlich dem Tüftler Maulwurf gehört. Das Problem ist nur: Um seine Vorteile zu nutzen, muss Alexander zweimal lügen. Damit gerät er in die Fänge von Gruber (Benedikt Hösl), der eine faschistoide Bande aufbaut.

Wie seine Vorlage, der gleichnamige Kinderroman der Jüdin Anna Maria Jokl, spielt der Film im Jahr 1931. Er spiegelt den aufkommenden Faschismus im Mikrokosmus der Schule. Aber es gibt entscheidende Unterschiede zwischen Roman und Film, die der Kinoversion klar zugutekommen. Erstens verlegt Rosenmüller die Geschichte in ein bayerisches Dorf, wodurch er ihr seine Handschrift als Heimatregisseur der besonderen Art aufzwingt. Und zweitens trotzt er der Vorlage seinen eigenen Humor ab, ohne freilich das moralische Anliegen des Buches ganz auszublenden.

So entsteht ein kindlicher Kosmos, der in vielem an Wer früher stirbt ist länger tot erinnert: eine von Tagträumen, Wunschfantasien und Horrorvisionen durchsetzte Weltsicht, der Markus Krojer seine staunende Naivität und seine entwaffnende Schlitzohrigkeit leiht. Andererseits ist Die Perlmutterfarbe ein Kinderfilm und keiner, der sich wie Rosenmüllers Debüt in erster Linie an Erwachsene richtet. Und so bedient das jüngste Werk des enorm produktiven Regisseurs (sechs Filme in zwei Jahren) einfallsreich die Bedürfnisse der Kids: mit gewagten Abenteuern in einem gespenstischen stillgelegten Stahlwerk, mit erbitterten Bandenkämpfen und mit einem Konflikt, der sich klar zwischen Gut und Böse abspielt. Dabei lässt es sich aufgrund der Vorlage nicht vermeiden, dass die Auseinandersetzung mit den Grundstrukturen faschistischer Banden und der Bequemlichkeit des Mitläufertums stark an den Film Die Welle erinnert. Der geschichtliche Bezug zu den frühen 1930er Jahren – als die Schulbuben noch in kurzen Hosen durch Schneelandschaften stapften – passt freilich schlecht zu den humoristischen Einlagen des Drehbuchs. Dazu ist der Hintergrund der Nazi-Zeit einfach zu ernst.

Daher tut es dem Film gut, dass Rosenmüller sein Thema nicht allein auf das Nazi-Mitläufertum focussiert, sondern ihm eine allgemein-menschliche Fragestellung abgewinnt: Welche Konsequenzen kann eine kleine Bequemlichkeitslüge nach sich ziehen und was passiert, wenn man den richtigen Zeitpunkt verpasst, die Wahrheit zu sagen? Und vor allem: Welchen Stellenwert haben solche Dinge, wenn sie einem Kind passieren? Dann nämlich verlieren sie ihren moralinsauren Ballast. Und dürfen sich mit viel Schwung auf einer Spielwiese entfalten, die für viele Erwachsene nur noch im Kino zu haben ist.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-perlmutterfarbe