Jerichow (2008)

Die Ökonomie der Gefühle im Niemandsland

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Wie seltsam vertraut diese Geschichte doch ist. Und wie neu sie zugleich erscheint, da sie nun mit den Augen und dem Blick von Christian Petzold erzählt wird. Dessen neuer Film Jerichow verweist – wie bereits [ilink06566]Yella[/ilink] – auf ein klassisches Vorbild der Filmgeschichte und drückt einem wohlbekannten Stoff seinen ureigenen Stempel auf, formt ihn im Sinne seiner Agenda um und erschafft daraus etwas vollkommen Neues.

Schon nach gut einer halben Stunde ahnt man, welche literarische und filmische Vorlage hier neu verhandelt wird. Die Geschichte, die Jerichow zugrunde liegt, entstammt aus dem Kriminalroman Wenn der Postmann zweimal klingelt / The Postman always rings twice von James M. Cain aus dem Jahre 1934, die es in bislang drei filmischen Adaptionen zu einigem Ruhm gebracht hat – 1943 realisierte Luchino Visconti die verhängnisvolle Dreiecksgeschichte unter dem Titel Ossessione, 1946 folgte eine Film noir-Variante unter der Regie von Tay Garnett mit dem Titel Im Netz der Leidenschaften und 1981 schließlich der Film Wenn der Postmann zweimal klingelt von Bob Rafelson mit Jack Nicholson und Jessica Lang in den Hauptrollen. Und nun also Petzold, der diese Geschichte noch einmal verfilmt. Wobei sich die Frage stellt, ob eine vierte Bearbeitung dieser hinreichend bekannten Geschichte noch etwas Neues zu entdecken weiß. So viel sei verraten: Das Unternehmen gelingt.

Jerichow ist ein kleines Kaff in Sachsen-Anhalt, tief in der ostdeutschen Provinz. Hierin ist der Ex-Soldat Thomas (Benno Fürmann) zurückgekehrt, nachdem er in Afghanistan war und unehrenhaft aus der Truppe entlassen wurde. Gerade ist seine Mutter gestorben und er bezieht das heruntergekommene kleine Häuschen, um es später einmal zu renovieren. Geld allerdings hat er keines, denn das Wenige, was er besitzt, wird ihm gleich zu Beginn von einem rabiaten Gläubiger abgenommen. Und als Erntehelfer wird er kaum genug verdienen, um jemals wieder auf die Beine zu kommen.

Doch dann trifft er auf Ali (Hilmi Sözer), der eine Imbissbuden-Kette betreibt und den Thomas aus einer misslichen Lage befreit. Als Ali wenig später den Führerschein verliert, engagiert er den Ex-Soldaten als Fahrer und bereist mit ihm zusammen die Döner- und Asia-Stände. Schnell wird klar, dass Ali voller Misstrauen steckt und davon überzeugt ist, dass jeder um ihn herum ihn betrügt. Das gilt für die Imbissbuden-Pächter ebenso wie für seine Frau Laura (Nina Hoss). Und so ganz unrecht hat Ali mit seiner Vermutung nicht. Ausgerechnet Thomas, der einzige, dem er sich anvertraut, beginnt eine verstohlene Liebesgeschichte mit Alis Frau, die durch eine drückende Schuldenlast fest an Ali gebunden ist. Und weil die beiden Liebenden bald schon keinen anderen Ausweg mehr sehen, schmieden sie ein mörderisches Komplott.

Wie alle Filme Christian Petzolds ist auch Jerichow in einem Zwischenraum und einer Zwischenzeit angesiedelt, die viel von der Ohnmacht, der Erstarrung und der Vereisung der Verhältnisse und Beziehungen erzählt. Im Gegensatz zu Yella aber mit seinem metaphysischen Grundrauschen präsentiert sich Petzold dieses Mal ganz diesseitig und ungewohnt emotional. Und doch sind seine Handschrift, sein Interesse an den Figuren und seine ureigene Weltsicht unverkennbar: Abermals sind es vor allem die ökonomischen Aspekte, die prekären Verhältnisse und die daraus entstehenden Abhängigkeiten, die im Mittelpunkt dieser heißkalten Dreieckskonstellation stehen. "Wer kein Geld hat, kann nicht lieben", sagt Laura sinngemäß an einer Stelle des Films. Nimmt man dies, die entwürdigende Szene von Thomas in der Agentur für Arbeit, die bittere Realität und Tristesse der Gegend, Alis subtile Formen der Ausbeutung und die Verzweiflung Lauras über die Aussichtslosigkeit ihrer Lage zusammen, dann bekommt man eine Ahnung davon, wie viel aktuelle soziale Wirklichkeit in dieser Neuverfilmung einer altbekannten Story steckt.

Zwar ist auch hier wieder jene Präzision und vermeintliche Kälte zu spüren, die die Filme Christian Petzolds auszeichnet, doch zugleich ist in jeder Einstellung und jeder Szene etwas vom Brodeln der Gefühle zu erahnen, von den tiefen Abgründen der Figuren, die stets nur angedeutet werden Doch allein das genügt, um Jerichow zu einem beeindruckenden Film und einer treffenden Parabel zu machen – trotz spärlicher Informationen und äußerst knapper Dialoge. Und das liegt vor allem an den drei Schauspielern, die jeder für sich eine ganz neue Facette ihres Könnens aufzeigen. Benno Fürmann beispielsweise verkörpert den schweigsamen Thomas mit einer Gebrochenheit, die man sich öfter bei seinen Figuren wünschen würde. Und selten sah man Nina Hoss so verhärmt und vom Leben gezeichnet wie in Jerichow. Die eigentliche Entdeckung des Films aber ist Hilmi Sözer, der sein enormes Talent früher in Filmen mit der Vollprolette Tom Gerhardt (Voll normaaal, Ballermann 6) verheizte, um hier endlich zu zeigen, dass er ein bislang sehr unterschätzter Darsteller ist.

Selten war ein Film noir so gleißend hell, waren die Emotionen und verborgenen Motive, die schmutzigen kleinen Geheimnisse, finsteren Abgründe und dunklen Ahnungen so schonungslos dem hellen Licht des Sommers ausgeliefert wie hier. Diese Verknüpfung von Genrekonventionen mit punktgenauen Beobachtungen der derzeitigen persönlichen und sozialen Verhältnisse macht Jerichow zum besten Film der letzten Jahre von Christian Petzold.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/jerichow-2008