The Exploding Girl

Eine Art Fernbeziehung

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Was wäre Ivy (Zoe Kazan) wohl ohne ihr Handy? Mit ihrem Freund Greg kommuniziert die 20-jährige Studentin ausschließlich über ihr Telefon. Es ist Sommer, sie hat Ferien, die sie zuhause in New York verbringt und Greg ist nicht bei ihr. Viel haben sie sich in ihren Telefonaten nicht zu sagen. Und so überrascht es auch nicht, dass Greg die Beziehung bald darauf beendet – am Telefon. Ivy verbringt die meiste Zeit allein oder mit ihrem besten Kumpel Al (Mark Rendall), der sich während der Ferien bei ihr einquartiert hat. Al, in dem sie immer nur ihren besten Freund sieht, ist eigentlich der, der ihr am liebsten ist. Sich das einzugestehen, fällt ihr nicht leicht. Sie bemerkt es zwar jeden Tag ein bisschen mehr, aber es scheint nicht richtig zu sein, ihren besten Freund zu lieben. Erst ganz am Ende des Films kommen die beiden sich näher, wenn sich ganz subtil im Auto ihre Hände berühren.
Der amerikanische Regisseur Bradley Rust Gray erzählt in The Exploding Girl eine wunderschöne Geschichte über die Freundschaft zweier junger Menschen, an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Der Titel ist etwas irreführend, denn in Ivy steckt ein unglaublich ruhiger, gefasster nahezu stoischer Charakter. Sie nimmt die Dinge hin so wie sie sind, ohne sich aufzuregen. Sie redet nicht über ihre Sorgen. Weder Al noch ihre Mutter – ihre einzigen Bezugspersonen – erfahren, dass Greg mit ihr Schluss gemacht hat. Selbst wenn Magenkrämpfe und epileptische Anfälle sie quälen, nimmt sie das gelassen dahin.

Zoe Kazan ist die Enkeltochter des Regisseurs Elia Kazan (East of Eden). Ihr Vater Nicholas Kazan ist Drehbuchschreiber. Sie ist eine erfolgreiche Theaterschauspielerin in New York und zurzeit in gleich mehreren Filmen zu sehen, darunter Zeiten des Aufruhrs / Revolutionary Road von Sam Mendes und in Rebecca Millers The Private Lives of Pippa Lee, der im Wettbewerb der Berlinale zu sehen ist. Es macht unglaublich viel Spaß, ihr in der Rolle von Ivy zuzusehen, wie sie schläft, lacht, spaziert, redet oder einfach nur vor sich hinträumt.

The Exploding Girl ist ein wunderschöner, kleiner Festivalfilm. Sehenswert schon allein wegen seiner Hauptfigur Ivy. Wenn wir alle ein bisschen Ivy in uns hätten, wäre das Leben um einiges gelassener.

(Katrin Knauth)


Bereits der Titel lockt den Zuseher auf die falsche Spur. Denn von Explosionen ist in diesem wunderbar stillen und geduldig beobachtenden Film von Bradley Rust Gray kaum etwas zu sehen und zu spüren – im Gegenteil. Statt lauten Knalleffekten lässt sich der Regisseur sehr viel Zeit für die Entwicklung einer sehr zarten und behutsamen Liebesgeschichte zweier Teenager, die sich schon seit Ewigkeiten kennen und beide ein wenig anders sind als die anderen.

Ivy (Zoe Kazan) ist 20 Jahre alt und leidet unter jugendlicher myoklonischer Epilepsie, weswegen sie keinen Alkohol trinken darf und allzu große Aufregungen vermeiden soll, da beides einen Anfall auslösen könnte. In den Semesterferien ihres Colleges fährt sie nach Brooklyn, wo sie zuhause ist. Auf dem Weg ins sommerliche schwüle New York liest sie Al (Mark Rendall) auf, einen Freund aus Kindertagen, der in einer anderen Stadt an einem anderen College studiert. Und weil die beiden Zeit haben in der Stille des Sommers in Brooklyn, hängen sie viel miteinander herum, gehen auf Partys, reden, verbringen Zeit im Park – nichts Aufregendes also, sondern ein ganz normales Leben, wenn man Anfang Zwanzig ist und Zeit hat.

Zwar hat Ivy einen Freund namens Greg, doch mit dem telefoniert sie allenfalls. Zu Gesicht bekommen wir ihn als Zuschauer nie, hören lediglich seine Stimme. Und wenn die beiden sich mal am Handy erwischen, haben sie sich erschreckend wenig zu sagen. Mit Al ist das anders, der ist da und hört geduldig zu. Oder schweigt einfach gemeinsam mit Ivy, wenn den beiden danach ist. Ganz leise schleichen sich dann doch die Gefühle, die Ivy so sorgsam zu unterdrücken gelernt hat, in das vertraute Spiel zweier Menschen, die einander gut kennen. Al verliebt sich in Ivy. Als Greg am Telefon mit ihr Schluss macht, betrinkt sie sich allen Gewohnheiten zum Trotz auf einer Party und erleidet prompt einen Anfall – es bleibt die einzige "Explosion" in diesem Film, der zum Schluss hin ganz vage zeigt, dass den beiden vielleicht doch mehr vergönnt ist als eine tiefe Freundschaft...

An manchen Stellen wirkt es beinahe amateurhaft, wie Bradley Rust Gray seine behutsame Liebesgeschichte The Exploding Girl erzählt, die meist den Spuren Ivys folgt. Wir sehen, wie sie in die Luft starrt, blicken forschend in ihr Gesicht und suchen nach Spuren ihres Gefühlslebens, schauen ihr zu, wie sie durch die Straßen läuft und immer ein wenig unschlüssig erscheint ob der Freiheit, die sie umgibt. Ihre Krankheit spielt dabei kaum eine Rolle, viel eher schon erscheint ihre Figur als prototypisch für einen Lebensabschnitt zu stehen, der sich angesichts der fehlenden Verortung im Leben und der vielen Möglichkeiten ein wenig wie ein Schweben im luftleeren Raum anfühlt und in diesem Film auch genauso aussieht.

Fast ohne Handlung im eigentlichen Sinne lebt dieser hinreißend lässige lupenreine Mumblecore-Film vor allem von der Kraft seiner wunderbar beiläufigen Beobachtung, von den entzückenden Hauptdarstellerin, viel guter Independent-Musik und von vielen kleinen Details, die ein Lebensgefühl ohne viele Worte auf den Punkt bringen. The Exploding Girl ist eine echte US-Indie-Perle, deren Schönheit und Weisheit sich erst auf den zweiten Blick vollkommen erschließt. Dann aber wird man diesen Film lieben.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/the-exploding-girl