Das Orangenmädchen

Kino der gemischten Gefühle

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Für Georg (Mikkel Bratt Silset) ist das Leben nicht leicht. Der Junge, der mitten in der Pubertät steckt, bekommt am Morgen seines 16. Geburtstages von seiner Mutter (Rebekka Karijord) Briefe ausgehändigt, die sein vor mehr als zehn Jahren verstorbener Vater vor seinem Tod an ihn schrieb. Zunächst will Georg nichts von den Briefen wissen, schließlich kann er sich kaum an seinen Vater erinnern. Das Einzige, was ihm von diesem geblieben ist, ist die Liebe zu den Sternen. Und die sind es auch, die den Jungen in den Norden seiner Heimat Norwegen treiben, dort will er mit seinem Teleskop einem lange erwarteten Kometen nachspüren, der in den nächsten Tagen besonders gut zu sehen sein soll.
Natürlich siegt auf der Reise in die gleißend hellen Schneelandschaften die Neugier auf das, was der Vater ihm zu sagen bzw. zu schreiben hat. So entdeckt Georg mittels der Briefe die Geschichte seiner Eltern neu, von denen er offensichtlich sehr wenig weiß. Er erfährt, wie sein Vater Jan Olav (Harald Thompson Rosenstrøm) in jungen Jahren auf der Straße dem geheimnisvollen Orangenmädchen (Annie Dahr Nygaard) begegnet und sich augenblicklich in sie verliebt. Zunächst entgegnet sie seine Zuneigung, doch dann muss die junge Frau für eine Zeit zu Studien nach Spanien und bittet ihn, er möge sechs Monate auf sie warten. Und steht so Jan Olav vor der Wahl, seinem Herzen (und seiner Geliebten) zu folgen oder eine halbe Ewigkeit zu warten – nicht wissend, ob die Liebe in dieser Zeit der Trennung nicht abkühlt. Er entscheidet sich für das Glück – und tut gut daran. Denn es bleibt ihm nicht viel Zeit, dieses Glück mit dem Orangenmädchen zu genießen...

Eva Dahrs Verfilmung des Romans von Jostein Gaarder (Sofies Welt) erfuhr gegenüber der literarischen Vorlage einige und zum Teil nicht unerhebliche Änderungen. Während Georgs Mutter sich beispielsweise in der Verfilmung lediglich einen heimlichen Geliebten leistet, ist sie im Roman längst wiederverheiratet und Georg hat zudem eine kleine Schwester. Außerdem findet sich in dem Buch auch die Reise in den Norden Norwegens ebenso wenig wie Georgs erste eigene Liebe. Gerade diese Geschichte aber erweist sich im Verlauf des Films als die eigentlich spannende und könnte Das Orangenmädchen auch für manchen jugendlichen Zuschauer zu einer interessanten Erfahrung machen. Schließlich geht es hier um ihre Probleme und Nöte, geht es darum, wie man die erste Liebe erkennt, wie man sie behandelt und wie man offen wird für die Wunder, die einem die Liebe bereithält.

Genauso ergeht es Georg auf seiner Reise in den Norden: Beschäftigt mit den Sternen und den Gedanken an seinen Vater und dessen Geschichte verpasst er beinahe das Glück in Gestalt der reizenden Stella (Emilie K. Beck), die sich offensichtlich zu ihm hingezogen fühlt und die er immer wieder übersieht. Bis es beinahe zu spät ist.

Hingegen bleibt die eigentliche Geschichte um Jan Olav und das "Orangenmädchen", das sich schließlich als Georgs Mutter entpuppt, bei aller Liebe zu (orange)farbigen Akzenten und elegischen Bildern ein wenig blass. Im Vertrauen auf die Märchenhaftigkeit der Liebe zwischen den beiden baut Eva Dahr vor allem auf ihre Darstellerin Annie Dahr Nygaard und auf die üppigen und farbenprächtigen Szenen in Spanien, wohin Jan Olav der geliebten Frau folgt. Durch die Rahmenhandlung aber bliebt diese zentrale Liebesgeschichte mitunter ein wenig fragmentarisch, hat man als Zuschauer zu wenig Zeit, sich auf diese Momente des Glücks und der Freude einzulassen.

Im wahrsten Sinne des Wortes ist Das Orangenmädchen ein Film der gemischten Gefühle. Und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Auf der Handlungsebene geht es um Liebe und Tod, um Trauer und darum, wie man ohne den Anderen weiterleben kann. Doch auch der Film selbst hinterlässt durchaus widerstrebende Emotionen beim Zuschauer: Einerseits lädt er mit seiner verträumten Musik und manchen furiosen Szenen zum Schwelgen, Träumen und Mitleiden ein. Andererseits kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass das Verhältnis von Rahmenhandlung und eigentlicher Geschichte für die Dauer von 90 Minuten ein wenig zu viel des Guten war. Wer die Geschichte Jostein Gaarders nicht kennt und dementsprechend unvorbelastet in diesen Film geht, dem dürften diese Diskrepanzen freilich weniger auffallen. Wenn es einem zudem gelingt, das Ganze als magische Geschichte, als Märchen gewissermaßen zu betrachten, fallen die Unstimmigkeiten und die mangelnde Balance weniger ins Gewicht. Allerdings verschwinden sie auch niemals ganz.

Ohne Zweifel besitzt Eva Dahr ein außerordentlich gutes Auge und ein Gespür für Inszenierung, Kameraführung und Schnitt. Wenn sie nun noch ein ebensolches Geschick bei der Auswahl geeigneter Stoffe beweist, muss einem eigentlich um diese Regisseurin nicht bange sein.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/das-orangenmaedchen