Still Walking

Mein Bruder ist ein Einzelkind

Eine Filmkritik von Lida Bach

"Auch wenn die Menschen sterben, sterben sie nie wirklich." Schmerzlich und schön sind die Schlüsselworte in Still Walking. Ryota kennt ihre Wahrheit aus bitterer Erfahrung. Im Haus seiner Eltern wartet sein großer Bruder Junpei, in dessen Schatten er immer stand und stehen wird. Dorthin reist der Kunstrestaurator mit seiner Frau, der jungen Witwe Yukari (Natsukawa Yui) und deren kleinem Sohn Atsushi (Tanaka Shohei) zu einer Familienfeier, die sein alten Eltern abhalten. Das alljährliche Fest zu Ehren Junpeis ist kein gewöhnliches. Der Ehrengast wird nie erscheinen. Denn Junpei ist seit Jahren tot. Hirokazu Kore-eda begleitet in seinem berührenden Meisterwerk die Familie auf eine skurrilen Totenfeier. Aus Humoreske und Trauerlied komponiert der japanische Regisseur eine Ode auf das Leben, deren Bilder nachklingen wenn sie lange verstummt ist.
Die Gedenkfeier des greisen Vaters Shohei (Harada Yoshio) und der abergläubischen Mutter Toshiko (Kiki Kirin) ist ein unvermeidliches Ritual. Widerwillig nimmt Ryota (Abe Hiroshi) daran teil. Kehrt zurück Jahr für Jahr, "still walking", in das Haus seiner Kindheit, in dem die Vergangenheit auf ihn wartet. In dem Heim, das sie mit Ryotas Schwester Chinami (You) bewohnen, konservieren Shohei und die abergläubische Toshiko die Erinnerung an Junpei, der einst bei der Rettung eines anderen Kindes ertrank. "Nur seine schönen polierten Schuhe blieben zurück", erinnert sich Toshiko. Die Schuhe seines Bruders wird Ryoto niemals ausfüllen können. Er könne keine Kompromisse machen, wie Junpei es konnte, bekommt er zuhören. Und Junpei "war so clever!", "war unser Retter". Die Heiterkeit ist trügerisch. Die eisige Zurückweisung des Vaters gegen seinen Sohn, die subtilen Verletzungen ihrer Schwiegermutter, die Yukari wie giftige Blitze treffen, trüben den Sonnenschein. Doch die emotionale Anspannung entlädt sich nie in einem klärenden Gewitter.

Das Totenbankett leidet stumm und rächt sich stumm. Aus reinem Sadismus lädt Toshiko den Mann, den Junpei rettete, ein. Er solle nicht vergessen, wie sie nicht vergessen kann. Shohei wünscht offen, der Gerettete wäre an Junpeis Stelle tot. Diese Geisteshaltung seines Vaters fühlt Ryoto sich selbst gegenüber. Werden Ryotas Worte Junpei zugerechnet, wird seine Verdrängung durch den Bruder spürbar. Was mache das aus, fragt Shohei, als Ryota darauf hinweist. Die Rollenbilder des selbstgerechten Arztes sind unverrückbar. Er lebt für die Vergangenheit, die er sich selbst konstruiert hat.

In seiner zurückgenommenen Darstellung enthüllt der herausragende Harada Yoshio den verschlossenen alten Mannes als unerbittlichen Patriarchen. Dass sein und Toshikos zwanghaftes Gedenken die gesamte Familie generationsübergreifend gefangen hält, kümmert beide nicht. Ihr Schmerz hat sie blind gemacht für den der anderen. Nach Ryotas Trauer über den Verlust des Bruders fragt niemand. Am Meeresufer zeigt Atsushi auf ein Schiffsfrack. Das Monument des Verfalls zwischen den Strandbesuchern symbolisiert das Gedenken, das den Blick in die Zukunft verstellt. Am Meer mit Ryota und dessen Stiefsohn wagt Shohei diesen Blick dennoch zaghaft. Für ihn selbst schon zu spät.

"Da wohnt ein Geist", sagt eines der Kinder auf der Feier und spricht aus, wofür den Erwachsenen die Worte fehlen. Den Spuk im Haus betreiben die Lebenden. "Menschen sind unheimlich", fühlt Yukari. "Alle sind unheimlich." In lichten, humorvollen Szenen erzählt Kore-eda eine Gespenstergeschichte. Er beschwört die Geister der Vergangenheit herauf wie James Joyce in The Dead. Der Tod – ein idealisierter Opfertod - hat sie übermächtig gemacht. Wie der titelgebende alte Pop-Song, den Toshiko heimlich hört, leben sie in den Köpfen der Hinterbliebenen. Keine Geisterstimme, sondern Ryotas alte Mutter singt die Melodie "Still walking...". Der Platz des Gedenkens ist auf dem Friedhof. Dass ihn Kore-eda in der letzten Szene zeigt, lässt seine bewegende cineastisches Lied von Liebe und Tod hoffnungsvoll ausklingen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/still-walking