Precious - Das Leben ist kostbar (2009)

Vom Opfer zum Hoffnungsträger

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Es kommt nicht oft vor, aber manchmal stehen auch US-Kassenschlager für Qualitätskino: So glaubwürdig, so schonungslos und gleichzeitig so optimistisch ist schon lange kein Sozialdrama mehr geraten. Der insgesamt für sechs Oscars nominierte Film von Lee Daniels berührt und erschüttert, er führt in dunkelste Abgründe. Aber er erkundet zugleich den Weg ans Licht. Preise bei wichtigen Festivals wie Sundance oder Toronto sowie ein Golden Globe für die beste Nebendarstellerin sind der verdiente Lohn. Precious – Das Leben ist kostbar erzählt ein schockierendes Schicksal ganz nah am Einzelfall und zugleich universell. Vielleicht schon jetzt einer der wichtigsten Filme des Jahres 2010.

Das Geheimnis des Erfolges könnte darin liegen, dass der afroamerikanische Regisseur zwei Geschichten in einer erzählt. Die eine ist das erbarmungswürdige Leben einer jungen Schwarzen aus Harlem. Die andere ist das Wunder, dass sich ein derart misshandeltes Mädchen auf den Weg in ein selbstbestimmtes Leben macht. Das wird nicht einfach chronologisch nacheinander erzählt. Sondern in Rückblenden und Erinnerungen stilsicher ineinander verwoben und garniert mit Traumszenen, in denen auch eine Prise Humor zu ihrem Recht kommt. Weder drückt die Opferrolle auf die Tränendrüse noch bedient das Aschenputtel Prinzessinnenträume. Und das ist angesichts des eigentlich hollywoodgerechten Plots, der nach süßlichen Geigenklängen geradezu schreit, mehr als erstaunlich. Apropos: Statt mit gefühlsduseliger Untermalung wartet der Soundtrack mit einem Reigen kraftvoller Songs auf.

"Precious" lautet der Rufname der Hauptfigur. Das kann man mit "wertvoll", aber auch mit "liebenswert" übersetzen. Allerdings fällt es besonders in den ersten Einstellungen schwer, den jungen Teenager zu lieben. Das afroamerikanische Mädchen ist etwa 200 Kilo schwer, wirkt völlig apathisch und scheint zerfressen von einem abgrundtiefen Selbsthass. Aber schon in den ersten Filmminuten wird klar: Das ist nicht Precious’ Schuld. Wenn jemals ein Mensch das Recht hatte, sich als Opfer zu fühlen, dann sie. Zweimal vom eigenen Vater geschwängert, von der Mutter gehasst und missbraucht – ein Lebenslauf mit allen Klischees, die man über Asoziale ausgießen könnte.

Doch nicht von ungefähr heißt der Roman, nach dem das Drehbuch entstand, "Push", also "Stoß" oder "Schub". Der Ruck, den sich Precious (Gabourey Sidibe) im Laufe des Films gibt, wird angestoßen von ihrer Lehrerin Ms. Rain (Paula Patton). Die lässt ihre allesamt geschädigten Schülerinnen Tagebuch schreiben und bringt ihnen bei, dass jeder in irgendetwas gut ist. Aber vor allem beruht ihre Pädagogik auf dem simpelsten und effektivsten Prinzip der Welt: Sie glaubt an ihre Schützlinge.

Auch in dieser Wendung der Geschichte lauert natürlich wieder jede Menge Kitschpotenzial. Dass es nicht zum Ausbruch kommt, liegt an der realistischen Figurenzeichnung und dem wohltuend zurückgenommenen Inszenierungsstil, der den an sich rührseligen Stoff nicht noch mit einer Zuckerschicht überzieht. Es liegt aber vor allem an hervorragenden Darstellerleistungen. Gabourey Sidibe, die zum ersten Mal in einem Film spielt, ist eine Traumbesetzung für die Rolle der Precious. Sie agiert in ihrer dumpfen Trägheit so nach innen gekehrt und in ihren tapsigen Befreiungsschritten so vorsichtig, dass daraus eine bemerkenswerte Glaubwürdigkeit erwächst. Genauso realitätsnah legt Paula Patton die Figur der Lehrerin an: eine Frau mit großem Herzen, aber ebenso klarem Bewusstsein für die Härten des Lebens.

Bekannte Namen adeln die Nebenrollen: die in den USA populäre Komödiantin Mo’Nique als Monster, das in der berührendsten Szene des Films plötzlich menschliche Züge zeigt; Popstar Mariah Carey, die man in ihrer anti-glamourösen Aufmachung kaum erkennen würde, wenn man es nicht wüsste, sowie Rockmusiker Lenny Kravitz, der einen smarten Krankenpfleger abgibt. Sogar die TV-Moderatorin Oprah Winfrey hat als Produzentin mitgeholfen, der unter die Haut gehenden Geschichte zu einem möglichst breiten Publikum zu verhelfen. Es war ihr wohl ein autobiografisch unterfüttertes Anliegen. Oprah Winfrey wurde als Kind sexuell missbraucht und mit 13 Jahren ungewollt schwanger. Ebenso wie Precious verkörpert sie heute eine Sehnsucht, die weit über solch schwere Schicksale hinausreicht: Yes, we can.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/precious-das-leben-ist-kostbar-2009