Mr. Nobody

Findet Nemo!

Eine Filmkritik von Tomasz Kurianowicz

Es ist das Jahr 2092. Ein Journalist fragt einen ziemlich verwirrt dreinblickenden und vor Altersschwachheit mit den Zähnen klappernden Mann: "Wie war es eigentlich, als die Menschen noch sterblich waren?" Der runzelige Kerl, der in einem Krankenbett liegt, in einer hochmodernen, uns fremden Realität, in der ihn alle nur Mr. Nobody nennen, lächelt verschmitzt zurück und beschreibt mit einer nostalgischen Erinnerung die Wesenszüge seines früheren Lebens; die bösen, ruchvollen Nuller-Jahre: "Ach, wir rauchten, wir aßen Fleisch. Eigentlich passierte nicht viel. Es war wie in einem französischen Film. Es war herrlich."
Konfrontiert mit dieser durchtriebenen Antwort verfällt der Journalist in ein betretenes Schweigen. Nun visiert er erwartungsvoll sein klumpiges Aufnahmegerät an, das er, wie er sagt, einem historischen Museum entwendet hat, und hofft, dass die kreisenden Tonbandrollen auch alles aufzeichnen werden, was der letzte sterbliche Mann seiner Erinnerung zu entlocken vermag. In der Zukunft sind die Dinge nun mal anders. Und deshalb ist es eine Sensation, was Mr. Nobody – Nemo Nobody – nach 92 Jahren, jetzt, aus der klinischen Starre erwacht, seiner Nachwelt über die Vergangenheit berichten kann.

Dieser Nobody, der sich genauso wie Odysseus, als er auf seiner Weltreise vom Kyklopen Polypern bedroht wird, zum Schutz und zur Verdunklung seiner Identität einfach nur Nemo (lateinisch: Niemand) nennt, versucht sich zu erinnern, wie sein weit entfernt zurück liegendes Leben verlaufen ist, wie es vorüberzog, welche Enttäuschung auf welche Liebe und welcher Kummer auf welche Freude folgte. Doch die Gespräche mit dem Journalisten, die gemeinsam mit den Erkundungen eines Arztes aus der High-Tech-Zukunft die Rahmenhandlung bilden, verdunkeln mehr, als dass sie erhellen könnten: Sie sind die Erzählungen eines Mannes ohne Eigenschaften, der den Möglichkeitssinn vor den Wirklichkeitssinn stellt. Denn Mr. Nobody berichtet mit Rückblick auf sein 34. Lebensjahr, mit Blick auf das Jahr 2009, nicht, wie sein Leben verlaufen ist, sondern wie es hätte verlaufen können – in drei Variationen, eine verdrehter als die andere.

Der belgische Regisseur Jaco Van Dormael hat mit diesem filmischen und gleichsam 48 Millionen Dollar teuren Experiment, der eine Entdeckungsreise durch die Identität des Menschen ist, einen phantastischen, ergreifenden, vielleicht sogar den besten Film dieses Jahres gedreht. Jared Leto springt in die Rolle des 34- bzw. 118-jährigen Jünglings und Greisen, der uns vormacht, wie unendlich verworren Biographien ausgehen können, wenn das Schicksal anders zuschlägt, als geplant. Im Jahr 2092 malt sich Nemo aus, was passiert wäre, wenn er damals, als Schuljunge (Thomas Byrne), als seine Eltern sich geschieden hatten, nicht bei seiner Mutter (Natasha Little), sondern bei seinem Vater (Rhys Ifans) geblieben wäre. Er malt sich aus, was passiert wäre, wenn er seiner großen Liebe Anna (Laura Brumagne als 9-, Juno Temple als 15-, Diane Krüger als 30-Jährige) am Strand nach der Aufforderung, ob er denn schwimmen möchte, nicht sofort gefolgt wäre, sondern sie mit der Antwort düpiert hätte: "Mit Idioten gehe ich nicht schwimmen." Niemals wären sie sich näher kommen, niemals hätten sie sich geküsst. Stattdessen hätte Nemo die hübsche Elise (Léa Thonus, Clare Stone, Sarah Polley) kennengelernt. Ein zierliches Geschöpf, das eigentlich den Mädchenschwarm Stefano (Ben Mansfield) liebte. Was wäre passiert, wenn Nemo nicht aufgegeben hätte, als er den älteren, gut aussehenden Jungen vor Elises Haustür herumstehen sah? Was wäre passiert, wenn er trotz der harten Konkurrenz einfach zu Elise gegangen und sie leidenschaftlich geküsst hätte? Sie hätten geheiratet. Doch wären sie auch zusammen, wenn er, von ihrer Reserviertheit enttäuscht, in die Schuldisco gegangen wäre und tatsächlich die erste Frau geheiratet hätte, die mit ihm tanzt? Nein. Dann wäre Nemo im Jahr 2009 nicht mit Elise, sondern mit Jean (Anaïs Van Belle, Audrey Giacomini, Linh Dan Pham) verheiratet. Er wäre reich und totunglücklich. Anstatt arm zu sein, und auf die Rückkehr seiner großen Liebe Anna zu warten, die er wegen einer winzigen, anders gefällten Entscheidung nie kennengelernt hätte.

Auf welche Weise Jaco Van Dormael in seinem detailreichen Drehbuch die Handlungsstränge verflechtet, ist überwältigende Kunst, ist meisterhaft. Die Kamerafahrten und Schwenks, die gleitenden Übergänge von der Zukunft hinein in die Gegenwart und zurück in die Vergangenheit, werden so sensibel, so einfallsreich und galant umgesetzt, dass man nur staunend vor der Leinwand sitzt, angesichts der Kunstfertigkeit dieses immer wuchtiger sich ausbreitenden Panoptikums. Der Belgier Van Dormael, der an diesem Film seit 1996 gearbeitet hat, seziert das Leben in seiner Vielfalt, durchdringt mit seinen Figuren die Gefilden von Zeit und Raum. Er macht sich mit einer nie langweilig werdenden Handlung, die alle Qualitäten eines Unterhaltungsfilms hat, auf die Suche nach dem Ausmaß kontingenter Entscheidungen in einer nur oberflächlich von der Technik des Menschen beherrschten Wirklichkeit. Damit stellt er dem Rationalitätspostulat der Moderne ein phantasievolles Konstrukt gegenüber, das die Trennung zwischen Fiktionalität und Faktualität unmöglich macht. Wenn der Mr. Nobody interviewende Journalist wissbegierig fragt: "Was nun? Ist ihre Frau gestorben oder nicht? Waren sie verheiratet oder waren sie nicht verheiratet?" und Nemo mit einer weiteren, noch undurchsichtigeren Geschichte die Komplexitäten seines Lebens auf die Spitze treibt, dann hat er auf Umwegen eine Antwort auf diese nun banal wirkende Frage gegeben: Alle diese Leben hätten seine sein können. Und so, wie ein 118-Jähriger nicht nur die Erfahrungen eines 34-Jährigen, sondern auch die Gedanken und Gefühle eines 15- und 9-Jährigen vereint, so ist auch die Möglichkeit des Werdens, die Potentialität einer anderen Existenz, die man hätte werden können, jedem Individuum unauslöschlich angeboren.

Robert Musil hat uns in seinem großartigen Roman Der Mann ohne Eigenschaften erklärt, was Möglichkeitsmenschen wie Nemo ausmacht: "Wer Möglichkeitssinn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muss geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte, oder müsste geschehen; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, dass es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein."

Mit Mr. Nobody hat der größte Roman der deutschen Literatur ein filmisches Pendant erhalten. Man kann nur wünschen, dass viele Zuschauer den Weg ins Kino finden, um diese wunderbare, psychologisch motivierte, bis in die Verästelungen der Wirklichkeit hineinfühlende Identitätscollage zu enträtseln. Soviel ist klar: Nach dieser Erfahrung wird die eigene Perspektive auf das Leben eine ganz neue Farbe erhalten, ja mehr noch: ein neues Gesicht.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/mr-nobody