Baaria - Eine italienische Familiengeschichte

Ach, Sizilien...

Eine Filmkritik von Paul Collmar

Die Veränderungen, von denen Giuseppe Tornatore in seinem neuen Film Baarìa – Eine italienische Familiengeschichte mit gewohnt großem Gestus erzählt, sie spiegeln sich am deutlichsten im Wandel dieser einen Straße wieder, die wie ein weiterer Darsteller, vielleicht sogar wie der wahre Protagonist dieses Films wirkt. Neben diesem stummen Zeugen des Wandels verfolgt der Film vor allem die drei Generationen einer Familie in dem kleinen sizilianischen Dorf Bagheria – im Dialekt "Baarìa" genannt, aus dem auch Giuseppe Tornatore selbst stammt. Und so ist zu vermuten, dass diese Geschichte durchaus auch autobiographische Züge trägt.
In den 1930er Jahren ist Baarìa kein Ort, in dem man gerne leben möchte. Die noch unbefestigte Dorfstraße, die zerfallenden Häuser und die Menschen, deren Gesichter von Jahrhunderte währender Ausbeutung und Armut zeugen – all das macht einen unsagbar tristen Eindruck. Denn auch unter dem Duce Benito Mussolini hat sich nichts geändert an den Verhältnissen in Sizilien. Und so ist Cicco (Gaetano Aronica) gezwungen, seinen Sohn Peppino (Giovanni Gambino) für einige Monate zu einem Schäfer (Enrico Lo Verso) zu schicken, im Gegenzug erhält die Familie ein paar Laibe Käse, die über den ärgsten Hunger hinweghelfen. Episodenhaft spinnt sich nun die Geschichte Peppinos und seines Sohnes Pietro fort, durchmischen sich die Geschichte der Familie mit den großen Ereignissen der Politik im fernen Rom und den langsamen Veränderungen in Baarìa zu einem Teppich aus Historie und Histörchen, aus Anekdoten und den Dramen des Zusammenlebens in dem Dorf.

In Giuseppe Tornatores neustem, mit 150 Minuten Laufzeit nicht gerade knapp bemessenen Spielfilm konzentriert sich der Regisseur, der einst mit Cinema Paradiso eine opulente Hymne auf die Macht des Kinos auf die Leinwand zauberte, auf, das, was er am besten kann – die ganz große Kinooper. Untermalt von Ennio Morricones bombastischem Score schwelgt die Kamera in nicht immer schönen, aber doch stets ein wenig verklärt wirkenden Erinnerungen an die früheren Zeiten des Sehnsuchtsortes Italien. Dabei ist das Ganze so typisch italienisch geraten, dass man es die Produzenten des Fellini-Grusicals Nine am liebsten dazu zwangsverpflichten möchte, sich diesen Film mindestens zehnmal hintereinander anzuschauen – am besten ohne Pause.

Schon seltsam, dass es so gnadenlos nostalgische Filme wie Baarìa heutzutage überhaupt noch gibt. Und irgendwie ist das auch ein klein wenig beruhigend – die Nostalgie eines Giuseppe Tornatore verfehlt nach wie vor ihre Wirkung nicht. Auch wenn man durchaus das Gefühl hat, dass der Regisseur im Laufe seines Schaffens zunehmend zur Selbstreferenzialität neigt und am liebsten einen großen Filmemacher zitiert – nämlich sich selbst.

Als Analyse der verzwickten Strukturen und Verwicklungen in Süditalien ist Matteo Garrones Gomorrha sicherlich der ungleich radikalere und vor allem politischere Film, als nahezu klassisches und irgendwie typisch italienisches Epos hingegen hat Baarìa eindeutig die Nase vorn. An Klassiker wie Bernardo Betroluccis 1900 (1976) oder Lucchino Viscontis Der Leopard / Il gattopardo (1963), die ebenfalls über mehrere Generationen den Lauf der Geschichte am Beispiel einer Familie durchdeklinieren, kommt er aber nicht heran – sie bilden nach wie vor das Maß aller Dinge. Sehenswert ist Baarìa dennoch – schon allein deshalb, weil Tornatore nach wie vor die hohe Kunst beherrscht, trotz seines Blicks für die große Oper und die manchmal fast unüberschaubare Vielzahl an Ereignissen und Personen auch die kleinen Details im Auge zu behalten. Davon können sich viele junge Regisseure unserer Tage eine Scheibe abschneiden. Für Fans des unverkennbaren Inszenierungsstils, wie ihn Tornatore seit Beginn seiner Karriere nahezu ungebrochen zelebriert, ist Baarìa - Eine italienische Familiengeschichte sowieso ein Muss. Und sei es nur deshalb, weil sich heutzutage außer ihm kaum mehr ein europäischer Regisseur traut, derart ungeniert die gesamte Manipulationsmaschinerie des Kinos in derart opulenter Form zu benutzen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/baaria-eine-italienische-familiengeschichte