Ganz nah bei Dir

"Zu gut ist auch nicht gut"

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Dass Philipp (Bastian Trost) ein durch und durch gehemmter und pedantischer Einzelgänger ist, sieht man bereits in den ersten Szenen: Mit Bettdecke bis unters Kinn gezogen und selbst noch im Schlaf beherrscht, durchläuft er jeden Morgen das gleiche Ritual: Sobald sein vollautomatischer professioneller Bügelautomat die Betriebstemperatur erreicht hat, schlägt er die Bettdecke akkurat und in einem genau ausgetüftelten Winkel zurück und schwingt sich in exakten Bewegungen aus dem Bett. Und so geht das wohl Tag für Tag. Zu behaupten, sein Leben sei freudlos, ist wahrscheinlich noch eine gehörige Untertreibung – zumal er es allein mit seiner Schildkröte Paul teilen kann.
Dann aber stolpert (im wahrsten Wortsinne) eines Tages unvermutet die blinde Cellistin Lina (Katharina Schüttler) in Philipps Leben. Und bringt es mit ihrer erfrischend optimistischen Art schnell auf Trab. Unter Linas Fittichen blüht der nahezu autistische Einzelgänger spürbar auf und entdeckt die schiere Leichtigkeit des Seins. Auch wenn er sich selbst und seinem Psychiater (gleichzeitig sein bester und einziger Freund) versichert, dass "zu gut auch nicht gut" sei, kann er sich doch dem Zauber von Linas Lebensfreude nicht entziehen. Und ohne dass er es merkt, tut Philipp plötzlich Dinge, die er sich selbst niemals zugetraut, geschweige denn zugelassen hätte.

Im Jahre 2002 hatte Almut Getto mit ihrem Debüt-Spielfilm Fickende Fische auf sich aufmerksam gemacht, danach war es eine ganze Weile relativ ruhig um sie, so dass man beinahe schon befürchten musste, der für viele Regisseure so schwierige zweite Film würde ewig auf sich warten lassen. Dem ist Gott sei Dank nicht so. Denn mit Ganz nah bei Dir gelingt Getto abermals ein sehenswerter Film, der trotz eines kleinen Budgets liebevoll und mit einer gelungenen Balance aus Komik und Ernsthaftigkeit seine Geschichte auf die Leinwand bringt.

Virtuos wechselt Getto in ihrem Film die Stimmungen und Stile durcheinander, taucht Philipps Welt in streng kadrierte Bilder voller Symetrien, extremen Close-ups sowie außergewöhnlichen, in kühles Licht getauchte Kameraperspektiven (sehr stimmungsvoll sind beispielsweise die Aufnahmen auf einer Straße voller Regenschirme an einem grauen Herbsttag) während seine Begegnungen mit Lina durch die hinreißende Katharina Schüttler, aber auch mit einer mobileren Kamera und anderen Farbtönen sichtlich an Wärme und Dynamik gewinnen.

Ganz nah bei dir ist eine märchenhafte und hinreißend schräge Romantic Comedy über zwei Außenseiter, die nur auf den ersten Blick überhaupt nicht zueinander passen. In Wirklichkeit aber – und das macht dieser Film auf ebenso dezente wie verschmitzte Art und Weise deutlich – sind die beiden füreinander geschaffen. Die Mischung aus Romanze, subtiler Komik und dem Blick für die kleinen und großen menschlichen Tragödien erinnert manchmal auch durch die Magie, die die Geschichte ausstrahlt, ein klein wenig an Die wunderbare Welt der Amélie. Wobei Almut Getto niemals offensichtlich mit dem Vorbild kokettiert, sondern ihre Weltsicht auf ungleich subtilere Weise in Bilder kleidet.

Weil dieser Film wie ein ganz und gar zeitgenössisches Märchen daherkommt, müsste er eigentlich mit den Worten "Und wenn sie nicht gestorben sind..." enden.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/ganz-nah-bei-dir