Alice im Wunderland

Befreiung von gesellschaftlichen Fesseln

Eine Filmkritik von Florian Koch

Folge dem weißen Kaninchen! Dieser Aufforderung konnte sich Neo im Science-Fiction-Hit Matrix (1999) nicht entziehen. Bereits rund 135 Jahre früher wurde das symbolbeladene Motiv vom britischen Schriftsteller Lewis Carroll in den Kinderbüchern Alice im Wunderland und der Fortsetzung Alice hinter den Spiegeln etabliert. Dabei landete die Titelheldin in einer Traumwelt voller fantastischer Kreaturen und spannender Abenteuer. Die zeitlose Kraft von Carrolls Geschichte fand ihre Fortsetzung in zahllosen kulturellen Verweisen – von der Malerei bis zur Popmusik. Auch im Filmkosmos hinterließ Alice mehr als nur eine Duftmarke. Vom legendären Disney-Trickfilm bis zum aufwendigen TV-Mehrteiler: 24-mal wurde Carrolls Epoche machendes Werk für das Filmmedium adaptiert. Da stellt sich natürlich die Frage, ob es einer weiteren Interpretation bedarf. Die Antwort ist ein eindeutiges Ja, wenn man sich auf Tim Burtons opulente Modernisierung erst einmal einlässt.
Neben vielen weiteren Abweichungen besteht Burtons gravierendste Änderung in der Charakterisierung von Alice selbst. Aus dem kleinen Mädchen wurde eine 19-Jährige eigenwillige junge Frau. Alice ist bei Burton keine staunende Beobachterin mehr, sondern eine aktive Teilnehmerin am Geschehen.

Nach einem kurzen Prolog, in dem auf ihre Kindheit und ihren tiefen Vaterbezug eingegangen wird, steht die kaum erwachsen gewordene Alice (Mia Wasikowska) bereits vor dem Traualtar. Dass sie ihren lächerlich-versnobbten Bald-Ehemann völlig ablehnt spielt dabei keine Rolle. Die strengen gesellschaftlichen Konventionen des viktorianischen Zeitalters verlangen es, dass Alice, die immer noch nicht über den plötzlichen Tod ihres Vaters hinwegkommen ist eine möglichst lukrative und standesgemäße Ehe eingeht. Doch mitten in der Hochzeitszeremonie entdeckt Alice einen seltsamen Hasen mit einer Taschenuhr. Neugierig folgt sie dem merkwürdigen Fabelwesen, bis sie in eine tiefe Höhle einbricht. Dort erwartet Alice eine bizarre Fantasiewelt, die verblüffende Parallelen zu ihren Kindheitsträumen aufweist. Bald trifft sie geheimnisvolle Kreaturen, wie die ständig verschwindende Grinsekatze, die kettenrauchende Raupe Absolem, die etwas zurückgebliebenen Zwillinge Diedeldum und Diedeldei und natürlich den verrückten Hutmacher (Johnny Depp). Auch wenn diese Geschöpfe erst nicht glauben wollen, dass es sich bei der skeptischen Frau um die wahre Alice handelt, schreibt die Prophezeiung vor, dass sie als einzige den mächtigen Drachen Jabberwocky besiegen kann, um die Zauberwelt von dem Terrorregime der Roten Königin (Helena Bonham Carter) zu befreien. Denn geht es nach den sprechenden Tieren soll endlich wieder ihre friedfertige Schwester, die Weiße Königin (Anne Hathaway) über das Wunderland herrschen. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Alice noch viele Abenteuer bestehen und vor allem an die "Realität" des Zauberreichs glauben.

Tim Burton galt seit langem als prädestiniert für eine Neubearbeitung des Alice-Mythos. Errang er sich doch weltweit mit Kunstwerken wie Edward mit den Scherenhänden, Sleepy Hollow oder unlängst mit Sweeney Todd den Ruf ein Meister des morbid-fantastischen Kinos zu sein. Allerdings übte die Geschichte auf den Gothic-Filmer lange Zeit keinen Reiz aus. Zu jung und passiv war ihm das Mädchen, zu sehr missfiel es ihm, eine reine Effekte-Nummernrevue zu inszenieren. Deswegen entwarf Burton mit der Disney-Stammautorin Linda Woolverton (Der König der Löwen, Die Schöne und das Biest) die Idee, an Hand der Reise von Alice nicht nur eine Fortsetzung zu Carrolls Vision sondern auch eine stimmige Emanzipationsgeschichte zu entwickeln. Burton erschafft in Alice im Wunderland eine Alice, die sich von den Fesseln der Zeit und der Determination ihres Lebens löst. Seine Alice ist eine moderne Frau, die sich nichts vorschreiben lässt, eine, die ihren Freiheitsdrang und ihre Träume tatsächlich in die Realität umsetzen will. Um Selbstbewusstsein und Durchsetzungskraft zu tanken, muss sie letztlich ihre Traumreise durchleben.

Einen weiteren spannenden Aspekt fügte Burton dieser völlig geschlossenen Welt (nie lässt er sich auf eine Parallelmontage mit dem sitzen gelassenen Bräutigam ein) hinzu: Alice reflektiert sich selbst. Diese junge Frau glaubt zu wissen, dass sie die Figuren alle schon mal in ihren Träumen kennengelernt hat. Immer zweifelt sie die Wahrhaftigkeit des Geschehens und ihrer Protagonisten an. Das führt auch zu der entsetzten Frage des Hutmachers, ob er denn gar nicht mehr existieren würde, wenn Alice aufwacht.

Visuell schwelgt Burton in prachtvollen, ungemein detailreichen Bildern, die allerdings selten die Düsternis seiner früheren Werke erreichen – außer er bezieht sein Lieblingsmotiv vom einsam-entlaubten Caspar-David-Friedrich-Baum mit ein. Viele Kritiker machen hier den Einfluss des produzierenden Disney-Konzerns geltend, der immerhin ein 250 Millionen Dollar Budget stemmen musste. Dennoch wirkt Burtons Konzept nicht verwässert; die leichte Süßlichkeit und der Sinn für knallige Farben passen einfach zu Carrolls Vorlage und Burtons Anspruch, ein Familienpublikum zu erreichen. In dem bombastischen, brillant inszenierten Mix aus zumeist echten Darstellern, CGI-Kreaturen und animierten Hintergründen wirken allein die 3D-Effekte aufgesetzt. Als könnte man im Anschluss an den Sensationserfolg von Avatar nicht mehr darauf verzichten, flattern bei Burton jetzt verzauberte Insekten durchs Bild. Diese selbstzweckhaften Momente tragen im Gegensatz zu Avatar aber nichts zur Handlung bei. Nicht von ungefähr wurde der 3D-Effekt auch erst in der Postproduktion (allerdings auch auf Wunsch von Burton selbst) als überflüssiger Marketing-Zuckerguss hinzugegeben.

Alice im Wunderland würde nicht funktionieren, wenn neben all der formalen Perfektion die Figuren blass blieben. Und hier zeigt sich Burtons wahre Meisterschaft. Die unverbrauchte australische Hauptdarstellerin Mia Wasikowska überzeugt mit Natürlichkeit und Charme, während Burtons Lieblingsmusen Johnny Depp und Helena Bonham Carter Platz haben, um ihren Hang für skurrile Spinnereien auszuleben. Um Depp mehr Raum für die Entwicklung seines schizophren-liebenswürdigen Charakters einzuräumen, wurde die Rolle des Hutmachers deutlich ausgebaut. Mit einem irren Kostüm, ständig wechselnden schottischen Akzenten, digital bearbeiteten Augen, tonnenweise Make-Up und einer orangenen Lockenpracht darf Depp ganz im Stile von Charlie und die Schokoladenfabrik die Exzentrik seiner Figur auf die Spitze treiben. Bonham Carter wiederum gibt mit ihrem Riesenkopf eine wunderbar-eigenwillige und hoch amüsante Antagonistin ab. Viele der prominenten britischen Nebendarsteller verstecken sich hinter den CGI-Tieren. Deswegen empfiehlt es sich Alice im Wunderland im Original zu sehen, wo das Sprachtalent von Alan Rickman, Michael Sheen, Stephen Fry und Christopher Lee voll zur Geltung kommt.

Tim Burton gelingt mit Alice im Wunderland eine originelle, liebenswürdige und völlig eigenständige Neubearbeitung des Stoffes. Die Welt, die er mit Hilfe von perfekten Tricks, fantastischen Kostümen und einem herrlich verspielten Score von Haus- und Hofkomponist Danny Elfman erschafft ist modern in der Aussage und trotzdem ein Aufruf, das wunderbare Kinderbuch von Lewis Carroll noch mal aus dem Schrank zu ziehen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/alice-im-wunderland