Jungs bleiben Jungs

Von Pickeln, Socken und der ersten Liebe

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

"Dreams are my reality" – Träume sind meine Realität, so sang es damals, ach, als die 80er noch jung waren, Richard Sanderson in La Boum – Die Fete, und eine ganze Generation heterosexueller männlicher Teenager verliebte sich in die Hauptdarstellerin Sophie Marceau. Allerdings musste nicht nur dieses Schwärmen ein Traum bleiben, auch die Welt des Films war eine ideale Traumwelt, in die kein Sterblicher je eintreten würde. Der Titelsong schlug uns das ja eigentlich auch überdeutlich um die Ohren.
Der Vergleich mit La Boum muss unweigerlich kommen, wenn jetzt, ebenfalls aus Frankreich, in Cannes uraufgeführt, mit (unter anderem) einem César prämiert, eine Jugendromanze kommt, die in allem Antithese zu Claude Pinoteaus Film zu sein scheint. Hier ist nichts von Traumwelt zu spüren, höchstens mal von kleinen Traumata: Jungs bleiben Jungs, das Regiedebüt von Riad Sattouf, ist ein Film über die furchtbar gewöhnliche Pubertät eines 14jährigen.

Hervé (Vincent Lacoste) ist ungelenk und unsicher, wie Jungs in seinem Alter oft sind; er verbringt viel Zeit mit seinem Freund Camel (Anthony Sonigo), die beiden sind, wie noch ein paar andere in ihrer Klasse, Außenseiter: nicht besonders sportlich und auch sonst sehr durchschnittlich. Mit Camel redet er viel über Mädchen und Sex, ohne dass einer von beiden da aus eigener Erfahrung sprechen könnte; seine Avancen einem Mädchen gegenüber führen schließlich dazu, dass sich die ganze Klasse über ihn lustig macht. Aurore (Alice Trémolière) interessiert sich allerdings doch für ihn, und so hat Hervé plötzlich eine Freundin – aber damit wird es natürlich erst richtig kompliziert.

Schon im Vorspann küssen sich zwei Teenager, es ist eine feuchte Angelegenheit bar aller romantischen Verklärung, dafür mit viel Hingabe und Zunge. Die Haut ist unrein, die Frisuren sind katastrophal, die Erektionen unwillkürlich. Jungs bleiben Jungs – der deutsche Verleihtitel trifft die lakonische Ironie des französischen Les beaux gosses (etwa "Die hübschen Kerle") nicht – ist in seiner unverfälschten Direktheit gnadenlos; fast schon dokumentarisch ehrlich werden hier Leiden und Hässlichkeit des Heranwachsens thematisiert und gezeigt, ohne dass dies allerdings je in depressiven Weltschmerz abkippen würde. Eher findet sich hier die alltägliche Verzweiflung am eigenen Dasein wie an der Einmischung der Eltern.

Insbesondere Hervés alleinerziehende Mutter (Noémie Lvovsky) hat so ihre Schwierigkeiten damit, ihrem Sohn genug Raum zu geben. Nicht nur stürmt sie schon mal unangemeldet in sein Zimmer (wenn Hervé gerade dazu ansetzt, zum Anblick einer Nachbarin in Unterwäsche in eine Socke zu onanieren), sie lädt sich auch ungefragt mit auf die Party ein, zu der Aurore ihren Sohn eingeladen hat.

Sattouf inszeniert das alles unaufgeregt, in genau beobachteten, dabei fast schon fragmentarisch wirkenden Momentaufnahmen, die sich auf die wesentlichen Blicke und Gespräche konzentrieren. Auf einen konventionellen Spannungsbogen verzichtet er zugunsten der Auf- und Abbewegungen in der Gefühls- und Triebwelt seiner Hauptperson, und in der Tat macht seine Geschichte dadurch nicht nur den Eindruck, noch stärker in der Realität verankert zu sein, sondern gewinnt auch an Dichte: Wie Hervé weiß der Zuschauer nie genau, welche Katastrophe als nächstes folgen wird, oder ob sich nicht doch alles noch zum Besseren wendet. (Am Ende, so viel darf verraten werden, geht das Leben natürlich weiter, und auch dafür findet der Regisseur ein schönes Bild.)

In seinem unaufgeregten Blick auch auf das Hässliche ähnelt Jungs bleiben Jungs ein wenig den Filmen von Jared Hess, Gentlemen Broncos und Napoleon Dynamite, allerdings ohne deren Hingabe ans Bizarre und schmerzhaft Lächerliche. Bei Sattouf ergibt sich die Komik gerade aus der Normalität, aus dem nur zu Gewöhnlichen, und dem sich daraus öffnenden Blick auch auf unsere eigenen, meist verdrängten jugendlichen Peinlichkeiten.

So archetypisch vieles auch sein mag, was Hervé widerfährt und was ihn verwirrt und verletzt – wo mag Aurore beim Knutschen angefasst werden, wo nicht? –, ganz ohne Klischees und Übertreibungen macht Sattouf es auch nicht. Mädchen haben in Jungs bleiben Jungs ihre Akne und ihre Frisuren insgesamt besser im Griff, klüger und stiller sind sie sowieso; und dass Hervé und Camel auf dem Schulhof immerzu an einem Essensautomaten herumhängen, aus dem man sich ausschließlich Bananen ziehen kann, wirkt schon etwas dick aufgetragen.

Normalerweise ist der Humor von aber doch wesentlich stiller; und auch vieles andere handelt der Film recht subtil ab. Dass Aurore aus einer wohlhabenden Familie kommt, die in einer schicken Altbauwohnung lebt, während Hervé und Camel aus einer Hochhaus-Betonsiedlung kommen, scheint zwar mit einigen wenigen Bemerkungen abgetan zu werden, spiegelt sich aber zugleich doch ganz subtil in der Beziehung der beiden wider, in unterschiedlichen Haltungen und Erwartungen.

Darin entlarvt Jungs bleiben Jungs auch La Boum als gänzlich bourgeoises Märchen, das von einer Welt außerhalb seiner kleinen Fiktion nichts wissen will. Hervés Geschichte hingegen riecht nach dem Asphalt seines Schulhofs – und ist, natürlich, dann doch vor allem eine Geschichte, die verspricht: Da wächst man raus.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/jungs-bleiben-jungs