Der weiße Rabe - Max Mannheimer

Vom Schmerz des Erinnerns

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Dass Max Mannheimer eine außergewöhnliche Persönlichkeit ist, merkt man gleich in den ersten Bildern. Im Blick des 89-Jährigen liegt eine ungewöhnliche Kraft und eine erstaunliche Gelassenheit. Kaum zu glauben, dass ein Mann in diesem Alter noch so aktiv bei der Gestaltung unserer Zukunft mitmischt. Und das bei dieser Vergangenheit: Max Mannheimer ist ein Überlebender des Holocaust. Carolin Otto hat eine bewegende, Mut machende Dokumentation über ihn gedreht.
Der Film ist ein sehr persönliches und dabei unaufdringliches Porträt. Die Regisseurin kennt den Mann mit dem markanten Haarschopf und den wachen Augen schon seit über 20 Jahren. 1988 verlor sie ihre Bankkarte auf einem Parkplatz von Dachau. Der Finder war Mannheimer. Daraus entstand eine Freundschaft, die der behutsamen, fast zärtlichen filmischen Annäherung sehr zugute kommt. Carolin Otto nimmt den Zuschauer mit in eine beinahe alltägliche Begegnung, die alle Hemmschwellen und Beklemmungen hinter sich lässt, ohne dabei zu verharmlosen. So lernen wir einen Menschen kennen, den wir als Helden empfinden mögen und der zugleich von sich glaubt, dass er früher eher feige gewesen sei. Max Mannheimer sagt das ohne Understatement, ohne gewollte Bescheidenheit. Er redet darüber in einer Weise, die dazu führt, dass wir ihm auch Dinge abnehmen, die wir für übermenschlich halten: dass er sich nämlich ohne Hass über das äußern kann, was geschehen ist. "Ich spreche als Zeuge jener Zeit, nicht als Richter oder Ankläger." Das ist das Wunder dieses Films: Er lenkt trotz des hochemotionalen Themas, das sofort Entsetzen, Schuldgefühle und vielleicht Abwehr hervorruft, den Blick auf das Schicksal eines Einzelnen. Auf jemanden, der einen Weg gefunden hat, über den fürchterlichen Terror des KZ-Systems sprechen zu können, ohne daran zu zerbrechen.

Max Mannheimer wurde 1920 im heutigen Tschechien geboren. Die Nazis deportierten die jüdische Familie 1943 erst ins KZ Theresienstadt und dann nach Auschwitz, wo sie die Eltern, drei Geschwister und die Ehefrau des damals 23-Jährigen ermordeten. Nur der sechs Jahre jüngere Bruder überlebte. Den Brüdern gelang es, von Auschwitz nach Warschau verlegt zu werden, wo sie bei Aufräumarbeiten im zerstörten Ghetto helfen mussten. Danach wurden sie nach Dachau verschleppt, wo Max Mannheimer Typhus bekam und die Befreiung durch die Amerikaner nur mit viel Glück erlebte.

Wie viele andere konnte und wollte Max Mannheimer lange Jahre nicht über seine Erlebnisse in den KZs sprechen. Aber im Jahr 1964 schrieb er seine Geschichte auf – zunächst nur für seine Tochter. Aufgrund eines verzögerten Laborberichts dachte er, er habe Krebs und nicht mehr viel Zeit – was sich glücklicherweise als Irrtum herausstellte. Dieses "Späte Tagebuch" erschien 1986 als Buch. Seit 23 Jahren macht Max Mannheimer auch Führungen durch KZs, hält Vorträge und ist in den Schulen unterwegs, um seine Erinnerungen weiterzugeben.

"Ich habe das Buch meines Vaters nie an einem Stück lesen können", berichtet die Tochter in dem Film, "immer nur ausschnittsweise". Sonst wäre der Schmerz zu groß gewesen. Und es sieht ganz so aus, als habe sich die Regisseurin dieses Prinzip zu eigen gemacht. Obwohl die Geschehnisse letztlich chronologisch erzählt werden, bewegt sich Der weiße Rabe auf assoziative Weise zwischen den Schauplätzen und Begegnungen hin und her. Das ist gut so. Gibt es dem Zuschauer doch die Möglichkeit, sich dem Unerträglichen behutsam zu nähern. Und vor allem das heutige Leben Max Mannheimers zu bewundern: ein Leben in Würde, mit einer Stärke, die sich auch Tränen erlaubt, und zugleich mit einem ansteckenden Humor. Immer wieder kehrt die Regisseurin zu einer Autofahrt zurück, in der Max Mannheimer mit einem Freund auf der Rückbank sitzt und Witze erzählt. Spätestens da ist klar: Jemanden, der so entspannt lachen kann, müssen wir in seinem Anliegen umso ernster nehmen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/der-weisse-rabe-max-mannheimer