Wir sind die Nacht (2010)

Girls’ Night Out

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Bereits der Beginn ist vielversprechend und so bildgewaltig, wie man dies selten in einem deutschen Film zu sehen bekommt: In einem Flugzeug, das durch die Nacht fliegt, sehen wir eine ganze Gruppe von Leichen, die alle offensichtlich einem Überfall von Vampiren zum Opfer gefallen sind, denn die Toten weisen allesamt deutliche Bissspuren an den Hälsen auf. Während das Flugzeug nunmehr ohne Pilot durch die Nacht fliegt, entledigen sich die dafür verantwortlichen weiblichen Vampire Louise (Nina Hoss), Charlotte (Jennifer Ulrich) und Nora (Anna Fischer) noch einer bislang übersehenen Mitwisserin und entschwinden aus dem führerlosen Jet in die Nacht.

Unterschlupf finden die drei Vampirinnen, die munter zwischen verschiedenen Städten wechseln, ausgerechnet in jener Stadt, die sich wie kaum eine andere als Jagdgrund nach frischem Blut eignet – in Berlin. Dank ihrer Reichtümer residieren Louise, Charlotte und Nora standesgemäß in einem Luxushotel, fahren sündhaft teure Sportwagen, tragen die schicksten Klamotten und sind Besitzerinnen eines ultrahippen Nightclubs auf dem Gelände des früheren Spreeparks, dessen Getränkevorrat stets eine sehr wörtliche und eisgekühlte Variante der "Bloody Mary" für die Eigentümerinnen bereithält.

Was die drei Frauen zusammenhält, sind zum einen das gemeinsame Schicksal des (allerdings wenig düsteren) Schattendaseins im Dunkel der Nacht, daneben aber auch der glamouröse Lebensstil und eine hemmungslose Genusssucht, die das Techno-Girtlie Nora an einer Stelle des Films in treffende Worte fasst: „Wir fressen, saufen, koksen und vögeln so viel wir wollen und werden weder fett, schwanger noch süchtig“ – wenn man es so betrachtet, erscheint das Leben als Butsauger wie ein Traum, ein immerwährender Partyrausch, der nur mühsam überdeckt, dass Louise völlig verantwortungslos Frauen an ihr Schicksal kettet, weil sie sich auf der Suche nach ihrer verflossenen Liebe befindet, die vor vielen Jahrhunderten verbrannte. Seitdem sucht sie nach dem gewissen Etwas im Blick möglicher Opfer, infiziert die Objekte ihres verschlingenden Begehrens mittels Biss mit dem Vampir-Virus und nimmt die Geliebten in ihre rein weibliche Kleinfamilie auf, die ihn Wahrheit nichts anderes als ein Harem ist. Ihre Sehnsucht, ihre Leidenschaft nach dem früheren (idealisierten) Glück kann freilich keine der Frauen dauerhaft stillen – auch nicht Lena (Karoline Herfurth), eine Berliner Göre aus prekären Verhältnissen, die ebenfalls in den Bann Louises gerät.

Dennoch wird Lenas Aufnahme in den Kreis der Vampirinnen den Lauf der Geschichte entscheidend verändern. Denn während sich Charlotte und Nora ihrem Schicksal und damit dem hedonistischen Lebensstil Louises angepasst haben (die eine mehr, die andere weniger), verfügt Lena mit dem Polizisten Tom Serner (Max Riemelt) noch über einen (wenngleich anfangs nicht ganz freiwilligen) Anker im irdischen Leben. Und der ist so stark, dass er das unkontrollierbare Schattenmatriarchat der Vampirinnen gefährdet, die unter den Nachstellungen der Polizei immer mehr in Bedrängnis geraten.

Auf den ersten Blick mag Wir sind die Nacht wie eine Reaktion auf den weltweiten Erfolg der Twilight-Serie anmuten und nicht wenige Pressevertreter haben den Film im Vorfeld vor allem unter dieser Prämisse behandelt. Die Wahrheit sieht freilich ganz anders aus, denn Dennis Gansel entwickelte die Idee zu diesem Film schon vor etlichen Jahren – konkret im Jahre 1996, als Robert Pattinson gerade mal zehn Jahre alt war. Doch da Genrefilme wie dieser nach der festen Meinung vieler Produzenten nicht funktionieren, lehnten diese dankend ab und konnten erst durch den Erfolg von Twilight überzeugt werden, so dass die US-amerikanische Kult-Kinoserie zwar nicht als Impulsgeber, aber immerhin als Katalysator Wir sind die Nacht möglich machte. Als schließlich die Filme nach den Romanen von Stephenie Meyer für Furore sorgten, legten Dennis Gansel und sein Drehbuchautor Jan Berger größtmöglichen Wert darauf, jedwede Ähnlichkeiten und Parallelen zu Twilight aus dem Skript zu tilgen – was gottlob größtenteils auf überzeugende Weise gelang.

So peppig, modern, streckenweise bildgewaltig und auf der Höhe der Zeit Dennis Gansels unterhaltsames und knackig inszeniertes Vampirdrama auch daherkommen mag (nimmt man die Techno-Musik mal aus, denn die Popmusik ist längst weiter, als der Club-Sound des Films es uns weismachen will) – die Moral des Films ist dann doch untern Strich recht bieder und ein klein wenig altbacken. Dass Frauen derart ungehemmt dem Hedonismus frönen und sich so deutlich außerhalb der Gesellschaft auf der dunklen Seite des Lebens positionieren, das kann natürlich nicht einmal im Film gut ausgehen. Und wenn am Ende alle Vampirinnen das Zeitliche segnen und allein Lena mit Max der Göttinnen- bzw. Morgendämmerung entgeht und damit womöglich die Grundlage für eine neue, nun heterosexuell orientierte Vampirdynastie legt, dann herrscht auch im Reich der Blutsauger endlich wieder Ordnung. Aus dem selbstbewussten Titel-Statement, das ein klein wenig an das Motto der Wiedervereinigung "Wir sind das Volk" erinnert, wird unter dem Primat der (heterosexuellen) Liebe eine allenfalls kurze Zeit der feministischen Revolution im Reich der Vampire – allerdings eine, die auf der Leinwand vor allem dann verdammt viel Spaß macht, wenn man nicht allzu viel über die etwas prüde Moral von der Geschicht’ nachdenkt.
 

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/wir-sind-die-nacht-2010