In ihren Augen

Was Blicke verraten

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Ein Film, der das Thema des Schauens schon im Titel führt: Da darf man gespannt sein, ob das visuelle Versprechen eingelöst wird. Im Falle von In ihren Augen / El secreto de sus ojos ist die Sachlage klar. Der Oscar-Gewinner aus Argentinien (für den besten fremdsprachigen Film 2010) überzeugt auf der ganzen Linie: als großes Kino, sowohl optisch wie emotional. Ein dramatischer Thriller, der zeitlose Themen anspricht – das Verlorensein von Menschen, die vor langer Zeit ihrem Leben eine falsche Richtung gegeben haben.
Die kunstvoll geknüpften Handlungsfäden spinnen sich um den ehemaligen Kriminalbeamten Benjamin Espósito (Ricardo Darín). Der vitale und immer noch gut aussehende Verbrechensexperte wurde gerade in den Ruhestand versetzt. Keine schlechte Gelegenheit, sich endlich einer Vergangenheit zu stellen, vor der er sich 25 Jahre gedrückt hat. Es war der Fall, der Benjamins Leben prägen sollte: die Vergewaltigung und Ermordung einer wunderschönen Frau, die gerade den Mann ihres Lebens geheiratet hatte. Beim Versuch, die Tat aufzuklären, hatte der Polizist mit seiner Chefin Irene (Soledad Villamil) zusammengearbeitet – auch das eine Liebe, die keine Chance hatte. Nun, ein Vierteljahrhundert später, möchte Benjamin einen Roman über den mysteriösen Mord schreiben. Dabei trifft er nicht nur Irene wieder. Sondern merkt, dass er sich auch den ungelösten Rätseln seiner eigenen Biografie stellen muss.

In raffiniert verzahnten Rückblenden zieht Regisseur und Drehbuch-Co-Autor Juan José Campanella in die verschlüsselte Geschichte, die ihre Geheimnisse erst ganz am Ende vollständig preisgibt. Der kriminalistische Spannungsbogen bietet dabei das solide Gerüst für eine ganze Reihe anderer Handlungsfäden, die sich wie selbstverständlich daran anlehnen: die Konkurrenzkämpfe und Racheakte am Arbeitsplatz, die Freundschaft zu einem herzensguten, aber heillos dem Alkohol verfallenen Kollegen, und der trockene Humor und die lockere Art, die die desillusionierten Beamten den Verrücktheiten eines in die Diktatur abgleitenden Rechtssystems entgegensetzen.

Es sind die vielen Details und die ganz auf Bildsprache setzende Erzählweise, die die Faszination von In ihren Augen ausmachen. In diesem Film verraten tatsächlich die Blicke alles – oft in stimmungsvoll ausgeleuchteten Großaufnahmen und raffinierten Schärfeverschiebungen. So zum Beispiel in einer effektvoll montierten Szene, in der Irene und Benjamin den Hauptverdächtigen verhören. Erst glaubt Irene nicht an dessen Schuld. Doch es genügt ein sekundenkurzer Blick in die Augen des Mannes, der in ihren Ausschnitt starrt, um sie vom Gegenteil zu überzeugen. Wortlos verständigt sie sich mit Benjamin und treibt den Vergewaltiger derart in die Enge, dass er sich nur noch selbst verraten kann. Ein Kampf mit Worten und Gesten, der so genau choreografiert ist, dass allein diese Szene den Kinobesuch lohnen würde.

Auch Irene und Benjamin "gestehen" sich ihre Liebe allein über Blicke – zumindest bis kurz vor Filmende. Das schafft eine flirrende Spannung, die weniger aus dem Schema des "Einander-nicht-Kriegens" erwächst, sondern aus den Schwierigkeiten, die die Charaktere mit sich selber haben. Dass sie sich nicht trauen, ihre Gefühle in Worte zu fassen, weist darauf hin, dass es für eine gelingende zwischenmenschliche Kommunikation eben doch mehr braucht als nur den Blickkontakt. Selbst wenn sich aus der Schaulust perfektes Kino machen lässt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/in-ihren-augen