Min-Dit - Die Kinder von Diyarbakir

Die Mörder sind unter uns

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Dieser Film ist ein Politikum: Als erster kurdischsprachiger Film wurde er zum Filmfestival im türkischen Antalya eingeladen. Die Jury verlieh ihm den Spezialpreis. Vielleicht auch deswegen, weil das Langfilmdebüt von Miraz Bezar, nicht nur durch seine Botschaft, sondern vor allem durch seine eindringliche Machart berührt.
Der in Berlin lebende Regisseur erzählt von zwei Kindern, die sich auf der Straße durchschlagen müssen, weil ihre Eltern von einer paramilitärischen Gruppe ermordet wurden. Die 10-jährige Kurdin Gulistan (Senay Orak) und ihr jüngerer Bruder Firat (Muhammed Al) fahren gerade mit ihren politisch verfolgten Eltern von einem Hochzeitsfest nach Hause, als Uniformierte den Wagen anhalten. Ganz plötzlich ziehen sie die Pistolen und drücken aus nächster Nähe ab – kühl, geschäftsmäßig und gnadenlos. Sie lassen die beiden älteren Kinder ebenso zurück wie das Baby, das in den Armen der toten Mutter zu schreien beginnt.

In Diyarbakir, wohin viele Kurden während des Bürgerkriegs zwischen Armee und Rebellen geflohen sind, bleiben die Kinder auf sich allein gestellt. Sie können das Baby nicht durchbringen und die Wohnung nicht halten. Erst als sie auf der Straße landen, lernen sie Menschen kennen, mit deren Hilfe sie ein wenig Geld machen können – in einer Grauzone von Prostitution, Schwarzmarkt und Menschenhandel. Doch dann trifft Gulistan den Mörder ihrer Eltern wieder.
Regisseur Miraz Bezar vertraut ganz auf die erschütternde Tragik dieser Geschichte. Er erzählt sie erstaunlich leise, scheinbar ohne Wut und Empörung, lässt einfach die Fakten sprechen, die er in Diyarbakir recherchiert hat. Alle Elemente des von Fatih Akin koproduzierten Films basieren auf wahren Begebenheiten, auch wenn sie letztlich zu einer fiktiven Geschichte verknüpft wurden. Und weil das an sich schon drastisch genug ist, belässt es der Regisseur in den tragischsten Szenen bei Andeutungen, die umso tiefer unter die Haut gehen – ganz ähnlich den Sozialdramen der Brüder Dardenne.

Um die Struktur des autoritären Regimes bloßzulegen, genügen einfache Mittel. Etwa ein bloßer Schnitt. Wir sehen eine politische Gefangene in der Verhörzelle des Militärgefängnisses. Augenbinde, Hände gefesselt, der Mund blutverschmiert. Der Mörder von Gulistans Eltern kommt herein, das Verhör geht weiter. Aber wir sehen nicht, wie er zuschlägt – sondern den Schnitt auf die Ehefrau des Mörders, die friedlich im Bett schläft. Es ist die Wut darüber, dass ein Mörder und Folterknecht unbehelligt nach Hause gehen kann und dort ein Leben als zärtlicher Familienvater führt, die sich hier in wenigen Sekunden verdichtet. Und es ist zugleich die nüchterne Bestandsaufnahme einer Stadt und einer Gesellschaft, die ihren Zusammenhalt verliert, weil sie – anders als etwa in Argentinien oder Chile – die Schuld staatlich verordneten Terrors verdrängt.

Miraz Bezar wurde 1971 in Ankara geboren. Seine Familie wanderte 1980 nach dem Militärputsch nach Deutschland aus. Für den Film zog er 2005 von Berlin nach Diyarbakir um. Ganz bewusst hat er seine Kindergeschichte nicht zeitlich in den 1990er Jahren verankert, obwohl damals die Kämpfe zwischen kurdischen Rebellen und Armee die schlimmsten Opfer forderten. Dadurch wird seine Geschichte zu einer universell verständlichen und umso berührender. Man kann sie eigentlich gar nicht in Worte fassen. Man muss einfach nur in die fragenden, traurigen Augen der großartigen Laiendarstellerin Senay Orak blicken.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/min-dit-die-kinder-von-diyarbakir