All Tomorrow's Parties

Ein Do-It-Yourself-Konzertfilm

Keine Zukunft ohne Vergangenheit: In einer furiosen, auf den einprägsamen Beat des Soundtracks geschnittenen Montage erzählt der Musikfilm All Tomorrow's Parties, wie alles in Camber Sands begann. Der kleine Ort in East Sussex an der Südostküste Englands ist seit jeher ein beliebter Ferienort mit einer beeindruckenden Dünenlandschaft. In den 1950ern und 1960ern war das dort angesiedelte Pontins Holiday Camp eine viel besuchte Ferienanlage, die mittlerweile nicht mehr in Betrieb ist – mit einer Ausnahme. Seit 1999 findet hier (und kurz darauf im Butlin's Holiday Camp in Minehead, Somerset) nämlich ein Musikfestival der besonderen Art statt, dass sich All Tomorrow's Parties nennt und das sich als alternatives Gegenfestival zu den kommerziell ausgerichteten Events in Reading und Glastonbury versteht. Das Besondere an All Tomorrow's Parties (der Titel entstammt einem Song von Velvet Underground): Jedes Festival wird von einem einzigen Künstler kuratiert, der die auftretenden Bands persönlich aussucht und so ein Programm nach seinem Geschmack zusammenstellt – wobei der Fokus generell eher auf Bands aus dem Bereich Post-Rock, Avantgarde und Underground-HipHop liegt. "It's the ultimate mix tape", so beschrieb Thurston Moore von Sonic Youth, der die 2002er Ausgabe kuratierte, einmal den Ansatz des Festivals. Mittlerweile sind die antikommerzielle Haltung (so verzichtet das Festival vollständig auf Sponsoren) und die intime Atmosphäre des Festivals so erfolgreich geworden, dass es auch außerhalb Englands durchgeführt wird – 2009 fand erst ein ATP (so die Abkürzung) in Australien statt, seit 2002 ist man bereits in den USA aktiv.
Wie ein visuelles Mixtape sieht auch der Film aus, der die Historie des Festivals nun dokumentiert. Und das liegt vor allem an der Vielzahl der Quellen, aus denen All Tomorrow's Parties kompiliert wurde: Historische Super8-Aufnahmen stehen da neben Handy-Aufzeichnungen und professionell aufgezeichnete Szenen neben Amateur-Material – und das Ganze sogar oft noch zur gleichen Zeit, wenn Split Screens die Leinwand ist Sektoren aufteilen. Das Ergebnis ist vor allem an der absolut hörens- und sehenswerten Musik orientiert und benutzt die Beats als Taktgeber für das Rohmaterial.

Obwohl Jonathan Caouette, mit Tarnation in Cannes und Sundance bereits als Wunderkind gefeiert, nominell als Spiritus rector und Co-Regisseur geführt wird: All Tomorrow's Parties markiert einen neuen Weg des Filmemachens, der das Kino als eine Art Open-Source-Projekt begreift und damit einen ersten Schritt in Richtung einer Abkehr von einem klar identifizierbaren Regisseur und Urheber eines Films markiert. Und so ist es nur konsequent, dass bei den Regisseuren dieses Films die "All Tomorrow's People" an erster Stelle genannt werden und Caouette wohl eher als eine Art Kurator gesehen werden muss. Auch wenn das Ergebnis vor allem etwas für die Fans der diversen Bands und die Anhänger des Festivals ist und eher wie eine Art kollektives Tagebuch wirkt – der radikal-demokratische Ansatz ist allemal faszinierend und zeichnet die offene Atmosphäre schlüssig nach. Zugleich dokumentiert der Film einen Trend in der Musikindustrie, der von der Krise kündet und von den Strategien, mit ihr umzugehen: Überall auf der Welt kümmern sich Musiker und Bands zunehmend selbst um die Vermarktung und erobern sich damit ihre eigene Musik wieder zurück. Dass der Film nun auf ähnliche Weise professionelle Strukturen, Eigeninitiative und das gemeinschaftliche Erleben zum Prinzip erhebt, wie dies auch das Festival tut, ist durchaus bemerkenswert und könnte auch in manchen Nischen der Filmbranche für neuen Schwung sorgen.

Man darf gespannt sein, ob dieses Beispiel Schule machen wird. Apropos Schule: Vielleicht wäre dies ja eines jener Felder, auf denen in Zukunft mehrere solcher Projekte entstehen könnten: Mit einem professionellen Regisseur als Impulsgeber und einer Gruppe engagierter Amateure, die jeder für sich und alle gemeinsam ihren Anteil zum Projekt beisteuern – getreu dem Motto, dass nicht der Urheber zählt, sondern das Werk. Und das wäre angesichts der Debatten um Urheber- und Leistungsschutzrechte ein Schritt aus dem Teufelskreis "alter" und "neuer" Denkstrukturen über Kunst und den Schöpfer von Kunst. Wenngleich der Film schon ein Abgesang die Musikindustrie, wie wir sie bislang kennen, ist, markiert er immerhin im Bezug auf das Medium Film eine neue, zukunftsgerichtete Strategie. Das stimmt ein klein wenig hoffnungsvoll.

(Joachim Kurz)

Seit dem 25. Februar 2010 ist der Film in ganz Deutschland unterwegs, die DVD wird am 16.4. 2010 erscheinen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/all-tomorrows-parties