Die Entbehrlichen

Ein lang gehegter Herzenswunsch

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Es ist eine dieser unglaublichen Geschichten, die man manchmal in der Zeitung liest: Ein zwölfjähriger Junge versteckt seinen toten Vater tagelang in der elterlichen Wohnung. Der Grund: Die Mutter will die Familie verlassen und der Sohn hat Angst, ins Heim zu kommen. Ein Stoff also, der so ziemlich alle Klischees erfüllt, die man als gut behüteter Mittelstandbürger über die Menschen am Rande der Gesellschaft hegen mag. Aber nicht mehr nach diesem wunderbar einfühlsamen Film, der beim Filmfestival in Sao Paulo die Preise für die beste Regie und den besten Darsteller (André Hennicke) bekam. Regisseur Andreas Arnstedt erzählt die Geschichte ganz anders, als man es nach der knappen Inhaltsangabe befürchten würde.
Jakob (Oskar Bökelmann) zählt zu jenen Schülern, die bei Klassenfahrten daheimbleiben müssen, weil die Eltern das Geld nicht aufbringen. Die Familienverhältnisse sind, wie man heute so schön sagt, prekär. Es herrscht ein rauer Ton, die Faust sitzt locker und der Alkohol heizt die Aggressionen an. Aber es gibt – und das ist das Besondere und Schöne – fast ebenso viele zärtliche Gesten. Und manchmal eine Solidarität, wie man sie in der Mittelschicht selten findet.

Viel mehr muss man von Jakob, seinen Eltern Jürgen (André Hennicke) und Silke (Steffi Kühnert) sowie der Oma (Ingeborg Westphal) nicht wissen. Denn der Film enthüllt die Details dieses Familiengeflechts in Rückblenden, denen man nicht vorgreifen sollte. Die kunstvolle Erzählweise befördert natürlich die Spannung, dient aber vor allem einem inhaltlichen Zweck: Wer nur auf das Ergebnis, den Endpunkt dieser Tragödie schaut, wird lediglich seine Vorurteile bestätigt sehen. Wer aber den Prozess ins Auge fasst, der sich davor abspielte, erhält ein anderes Bild. Nämlich das von Menschen, die sich mit bemerkenswerter Kraft dem Abgrund widersetzen, in den sie am Ende eher zufällig als zwangsläufig stürzen. Das wird lustig und makaber inszeniert, himmelhochjauzend und zu Tode betrübt.

Dieselben Gefühlslagen haben womöglich auch die Entstehungsgeschichte dieses visuellen Kleinods begleitet. Andreas Arnstedt arbeitet seit 17 Jahren als Schauspieler. Dass er nun erstmals Regie führen wollte, betrachtete man in den Filmförderungsgremien wohl mehr als Schnapsidee. Irgendwann hatte Arnstedt die Nase vom Klinkenputzen voll und entschied sich, eine Low-Budget-Produktion ganz ohne Fördergelder zu machen, nur mit dem Geld, das er von seiner Arbeit für TV-Serien beiseitegelegt hatte (unter anderem Gute Zeiten, schlechte Zeiten und Küstenwache).

Viel besser als möglichen Geldgebern gefiel das Drehbuch allerdings Arnstedts Schauspieler-Kollegen. Und so begeisterte der Regisseur renommierte Mitstreiter wie André Hennicke, Steffi Kühnert, Matthieu Carrière und Ingeborg Westphal für die Herzensangelegenheit, diese Geschichte endlich zu erzählen, die auf wahren Begebenheiten beruht und die der Regisseur viele Jahre mit sich herumgetragen hatte.

Die Entbehrlichen ist vor allem auch ein Schauspielerfilm. Er erzählt die Gefühle, Träume und Traumata seiner Protagonisten über Blicke und zärtliche Gesten, die von der Kamera oft in ein warmes, weiches Licht getaucht werden. Vielleicht ist das Geheimnis für den großen Zauber, den der Film ausstrahlt: dass die harten Fakten in einer Bildwelt geschildert werden, die überhöht ist durch die subjektiven Sehnsüchte des jungen Protagonisten. So entsteht ein Wärmestrom der Sympathie für den weichen Kern unter der rauen Schale. Auch wenn das angesichts der fürchterlichen Ereignisse etwas merkwürdig klingen mag.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/die-entbehrlichen