Bal - Honig

Schweben zwischen Himmel und Erde

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Was für ein Beginn: Ein Mann betritt zusammen mit seinem Maultier eine Lichtung, bereitet ein Seil vor, wirft es über einen Baum, so dass es sich an einer Astgabel verfängt, prüft mit kräftigem Ziehen, ob das Seil auch sicher und fest ist und macht sich dann daran, diesen Baum zu erklimmen. Auf halbem Weg hört er ein Knacken über sich, der Ast, über den das Seil hängt, beginnt zu brechen und knickt ab, so dass der Mann einige Meter nach unten saust und dann hilflos zwischen Himmel und Erde hängt. Es ist der Auftakt zu einem Film, der viel vom Zuschauer abverlangt – vor allem Geduld.
In Bal ist Yusuf (Bora Altas), den wir in Yumurta als erwachsenen Dichter kennen gelernt haben, noch ein kleiner Junge von sechs Jahren, der es liebt, mit seinem Vater Yakup (Erdal Besikcioglu) die Wälder seiner Heimat zu durchstreifen. Weniger glücklich ist der Junge in der Schule, wo er von seinen Mitschülern wegen seines Stotterns und seiner Leseschwäche ausgelacht wird. Sein Vater ernährt die Familie durch den Verkauf von selbst geerntetem Honig. Als die Bienen, die den sehr bescheidenen Lebensunterhalt sichern, plötzlich ausbleiben, ist der Mann gezwungen, weiter von zuhause weg sein Glück mit den Bienen zu versuchen. Als er tagelang nicht von einer dieser Touren zurückkehrt, beginnt für Yusuf und seine Mutter die qualvolle Zeit des Wartens, die sich schließlich zu einer schrecklichen Gewissheit verdichtet...

Bal ist der dritte (weil zuletzt realisierte) und gleichzeitig der erste Teil (weil von der Kindheit seines Protagonisten erzählend) von Semih Kaplanoğlu Yusuf-Trilogie, die neben diesem Film noch aus Yumurta / Egg und Süt / Milk besteht. Wer die beiden vorherigen Teile bereits kennt, weiß schon, was ihn auch in diesem Film erwartet. Kaplanoğlu ist ein Poet, ein Bilddichter, der mit einer unglaublichen Ruhe und Bedächtigkeit seine Geschichten entwickelt, der der Natur viel Platz einräumt und in der jede noch so kleine und unscheinbare Handlung innerhalb der Erzählung eine ungeheure Bedeutung innehat. Lange, starre Einstellungen ohne Musik, aber mit dem Klangteppich der Natur und beinahe ohne ein gesprochenes Wort, immer wieder ungewöhnliche Blickwinkel und das extrem langsame, zerdehnte und verschleppte Erzähltempo fordern zum genauen Hinsehen auf – morgens um neun Uhr ist das nach einer kurzen Nacht und vielen bereits gesehenen Filmen eine echte Herausforderung. Und dennoch, es lohnt sich voll und ganz. Weil es der Film schafft, seinen ganz eigenen Zauber zu erschaffen und mit sparsamsten Mitteln in eine faszinierende andere Welt zu entführen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/bal-honig