Postcard to Daddy

Eine schonungslose Offenlegung der eigenen Geschichte

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Von außen schien die Familie Stock immer ganz normal zu sein: Mutter, Vater und drei Kinder. Der ältere Bruder ein wenig introvertiert, die Tochter hochintelligent und der jüngste Sohn Michael ein Sonnenschein. Doch die Fassade trügt, denn acht Jahre lange wurde Michael von seinem eigenen Vater sexuell missbraucht. Und niemand bemerkte es, nicht einmal seine Mutter oder seine Geschwister. Seitdem ist viel Zeit vergangen. Michael Stock ist Filmemacher geworden. Doch dieses Thema konnte er jahrelang nicht ansprechen. Nachdem er an AIDS erkrankte und 2007 einen Schlaganfall erlitt, fasste er endlich den Entschluss, dieses Kapitel in seinem Leben zusammen mit seiner Familie schonungslos aufzudecken. In der Hoffnung, vielleicht seinen Frieden finden zu können.
Das Ergebnis dieser Reise in die dunkle Vergangenheit ist Postcard to Daddy, ein Dokumentarfilm, der ehrlich, aber gefühlvoll mit dem Thema umgeht. Dabei geht es Stock nicht im Geringsten um Zurschaustellung seiner seelischen Wunden. Es geht ihm um Abschluss, um den Seelenfrieden seiner selbst und seiner Familie. Stock führt lange Gespräche mit seinen Geschwistern, deren Leben sich mit der Wahrheit ebenfalls verändert hat. Wie soll man mit einem Vater umgehen, der den eigenen Bruder gequält hat, der einem selbst aber nie Böses getan hat? Sollte man seine eigenen Kinder mit solch einem Opa konfrontieren? Vor allem die Mutter, die in all den Jahren nichts bemerkt hatte, nimmt Stock mit auf seinen Heilungsprozess. Beide fahren nach Thailand und versuchen in langen und schonungslosen Gesprächen einen Abschluss zu finden.

Was Postcard to Daddy von ähnlichen Dokumentationen grundlegend unterscheidet, ist seine Ehrlichkeit. Wo andere Filme aufhören zu erzählen oder nur noch kryptisch Bericht erstatten, sieht Stock dem Geschehen ins Auge und berichtet davon. Mit so viel Direktheit muss der Zuschauer erst lernen umzugehen, denn die Wahrheit macht unbehaglich. Das Aufrollen der vielen kleinen abartigen und zerstörerischen Details hat aber hier nicht den Zweck zur Schau gestellt zu werden. Es geht nicht darum zu zeigen, wie sehr man doch gelitten hat. Sondern es geht um einen Weg raus aus der Opferrolle. In ihren Gesprächen beginnt die Familie sich der Vergangenheit zu stellen und der Frage wie sie mit der Schuld und der Scham leben kann. Es zeigt sich aber auch mehr als deutlich wie sehr solch ein Missbrauch einen Menschen beschädigt. Detailgetreu analysiert Stock nicht nur seine Kindheit, sondern auch sein Leben als Erwachsener, das in jeder einzelnen Phase geprägt war von seinen Missbrauchserfahrungen.

Es ist manchmal schwer zu ertragen, diesen Gesprächen zuzuhören. Stocks Lebensgeschichte und seine Art sie zu erzählen, nimmt das Publikum so stark mit, dass es schwer ist diesen Film auszuhalten. Doch genau so muss es sein, denn weggeschaut wird bei diesem Thema allzu oft. Dabei ist es erstaunlich wie apologetisch und verständnisvoll man dem Täter gegenüber ist – nicht, dass man ihm verzeihen könnte, doch es gibt erstaunlich viel Denkarbeit ihm gegenüber. Die Frage wie der Vater wohl zwanzig Jahre später darüber denkt, versucht Stock ebenfalls zu beantworten. Es ist fast unglaublich, dass es ihm gelingt ihn ebenfalls zu interviewen. So viel Chuzpe hat man im Kino lange nicht gesehen.

Ob Stock mit diesem Film seinem Seelenfrieden näher gekommen ist, kann man nur vermuten. Aber Postcard to Daddy ist auf jeden Fall ein wichtiges Dokument, dass sich dem "bloß nicht drüber reden" Tabu entzieht und sexuellen Missbrauch als das zeigt was er ist: die Zerstörung eines Menschen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/postcard-to-daddy