Mammuth

Der Unruhestand des Serge Pilardosse

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Zumindest von der Haarpracht her kann es Gérard Depardieu in Mammuth durchaus mit Mickey Rourke in The Wrestler aufnehmen. Kaum streift der bullige Schlachter Serge Pilardosse seine Schutzhaube ab, fallen lange blondierte Locken auf seine Schultern herab, die wie der gesamte Kerl aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen. Genauso wie seine schwere Maschine, ein heute exotisch anmutendes Motorrad, eine Münch Mammut-4 TTS 1200, in der ein waschechter Automotor verbaut war. Auch darin ähnelt Serge seinem filmischen Anverwandten, dem Wrestler aus Darren Aronsofskys gleichnamigem Film – beide sind gnadenlos retro und in einer Zeit gefangen, aus der es kein Entrinnen gibt. Und beide sind eigentlich am Ende ihrer "Karriere" angelangt. Während Mickey Rourke aber in The Wrestler nicht weiß, wann es an der Zeit ist, mit der Arbeit aufzuhören, ist Serges Berufsleben am Beginn von Mammuth sichtbar am Ende. Mit sechzig Jahren ist nun für ihn Schluss, mit einer recht lieblosen Abschiedsparty wird er aus dem Schlachthof hinaus und in den (selbstverständlich wohlverdienten) Ruhestand hinein befördert. Was bei der Gattin des Riesenkerls nicht gerade für Begeisterung sorgt – die Aussicht, ihren Serge von nun an jeden Tag bei sich zuhause rumlungern zu haben, ist ihr offensichtlich wenig angenehm.
Was für ein Glück, dass dem Ex-Schlachter für seine Rente noch etliche Bescheinigungen früherer Arbeitgeber fehlen. Und so schwingt sich Serge auf seine Maschine und mach sich auf die Jagd nach den fehlenden Papieren. Was zunächst spröde klingt, wird im Verlauf der Reise zu einer ebenso vergnüglichen wie skurrilen Odyssee durch die Vergangenheit von Aushilfsjobs und erlebter Traumata, die dem Ritter von der massigen Gestalt immer wieder unvermutet begegnen.

Ausgerechnet der letzte Film des in diesem Jahr recht mediokren Berlinale-Wettbewerbs entschädigte dann doch für einige enttäuschte Hoffnungen und viele Filme, mit denen man nicht so recht warm werden wollte. Gleich zu Beginn des neuen Films von Benoît Delépine und Gustave de Kervern (Louise Hires a Contract Killer) wird klar, dass hier herkömmliche Erzählformen ordentlich gegen den Strich gebürstet werden. Hinzu kommen die grobkrönigen und verwackelten 16mm-Aufnahmen einer Motorradfahrt auf der Titel gebenden Maschine, die sich erst im Verlauf der Sequenz durch ihre Textur und die Vibrationen vom Abstrakten in konkrete Formen und Kontexte materialisieren – ein ästhetischer Kunstgriff, der durchaus auch im narrativen Duktus des Films seine Entsprechung findet.

Nie weiß man so genau, was als Nächstes folgt. Selbst wenn man dieses Prinzip der permanenten Überraschung einmal durchschaut hat, gelingt es Benoît Delépine und Gustave de Kervern dennoch, von einer Szene zur nächsten ebenso merk- wie denkwürdige Wendungen zu kreiern, die verblüffen und erstaunen. So mündet beispielsweise wie Begegnung mit einem alten Freund nicht in einen gepflegten Plausch oder ein Bierchen auf die alten Zeiten, sondern in eine skurrilen Bettszene, in der die beiden alten Herren versuchen, gegenseitig beim jeweils anderen Hand anzulegen – was natürlich misslingt. Ebenso belustigend wie irritierend ist eine weitere bemerkenswerte Szene, die sich während eines Abendessens in einem Gasthaus mit typischen Vertretern und anderen Handlungsreisenden abspielt: Ungeachtet der Wirkung nach außen und der zahlreichen Mithörer schluchzt hier ein Mann andauernd in sein Mobiltelefon und versichert seinen geliebten Töchterchen, wie sehr er es vermisse. Dabei wird schnell klar, dass dieser Mann als Vater eine völlige Null ist und pädagogisch bereits im jungen Alter seines Kindes hoffnungslos versagt hat.

Mit Episoden wie diesen und hinreißend schrägen Charakteren hält Mammuth eine bemerkenswerte Balance zwischen Melancholie, Absurdität und grimmigem Humor, die Spaß macht und die man in einer solch brillanten Kombination lange nicht mehr gesehen hat. Ein kleine Perle, die einiges wagt und dabei fast alles gewinnt. So viel Mut, Originalität und Stilwillen war auf der diesjährigen Berlinale jedenfalls selten zu sehen. Nicht nur deswegen muss man darauf hoffen, dass sich ein deutscher Verleiher dieses Filmes annimmt. Zwar dürfte Mammuth in Deutschland aufgrund seines schmutzigen Looks und seiner widerborstigen Story kein allzu großes Publikum beschieden sein – eine eingeschworene Fangemeinde dürfte sich dieser herrlich skurrile Film aber durchaus erspielen.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/mammuth